Hattingen. Dem in Hattingen angeschossenen Zeitungsboten geht es besser: Im Gespräch mit der WAZ erzählt er, warum er schnell wieder arbeiten möchte.

Dem WAZ-Zeitungsboten, der am Samstagmorgen in Hattingen-Holthausen durch Schüsse schwer verletzt wurde, geht es besser. Die WAZ besuchte ihn im Krankenhaus.

„Ich hatte so viel Glück“, sagt Y. (33) sehr gefasst, wenn er von der unbegreiflichen Tat spricht, die ihn ein Stück seines Zeigefingers kostete. „Wenn man sich das Auto ansieht, bin ich froh, dass nicht mehr passiert ist.“

WAZ-Zeitungsbote schildert, wie er den Schussangriff auf ihn in Hattingen erlebt hat

So schnell wie möglich möchte Y. wieder Zeitungen austragen. Still im Krankenhausbett zu liegen, kann der sportliche 33-Jährige schlecht. „Die Arbeit macht mir Spaß“, sagt der Hattinger, der seit 13 Jahren Zeitungen austrägt. Groll gegen den Täter hegt er nicht, die Nachricht, dass er gefasst ist, hat ihn nicht besonders berührt. „Von ihm ging ja keine Gefahr mehr für mich aus“, sagt er sehr abgeklärt.

Sein Vater trägt die WAZ bereits seit 35 Jahren aus – auch seine Frau und eine Tochter sind Botinnen. Gemeinsam kümmert sich die Familie um 20 so genannte Reviere. Passiert ist in all den Jahren nie etwas.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Und auch jetzt hat Y. keine Angst, nachts zurück auf die Straßen zu gehen. „Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Er hat es ja nicht auf mich persönlich abgesehen oder auf mich als Zeitungsboten.“ Darum könne er so locker über das Geschehene sprechen.

An dem Samstagmorgen jedenfalls freut er sich auf das Derby Dortmund gegen Schalke am Abend, ist guter Dinge angesichts des nahenden freien Sonntags. Als er in die Straße Am Schellenberg einbiegen will, steht ein Wagen so in der Zufahrt, dass er nicht daran vorbei kommt. Y. sieht das auswärtige Nummernschild und denkt: „Der möchte mich vielleicht etwas fragen.“

Bote dachte, der Mann wolle ihn etwas fragen

Y. beobachtet, wie der Mann in Seelenruhe um sein Auto herum zur Beifahrerseite geht, eine Waffe herausholt. Schnell setzt Y. zurück auf die Sprockhöveler Straße, weil er denkt, „dass das vielleicht einer ist, der nicht will, dass man auf Privatgelände fährt“. Da glaubt er immer noch nicht, dass der Mann wirklich schießen will.

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Doch der Mann drückt ab, trifft das Fenster auf der Fahrerseite auf Kopfhöhe. Glassplitter fliegen in Y.s Ohr. Immer noch kann er nicht glauben, dass wirklich Schüsse fallen. Das zweite Geschoss, sagt er, trifft den Zeigefinger seiner linken Hand. Er trägt Handschuhe, realisiert den Treffer an der Hand gar nicht. „Ich habe das Raynaud-Syndrom. Dabei verfärben sich die Finger bei Kälte und schmerzen, die Haut verhärtet sich und kann bei ruckartigen Bewegungen aufplatzen. So hatte sich das im Auto angefühlt. Ich dachte, ich hätte zu fest ums Lenkrad gegriffen.“

Erst beim dritten Schuss ist dem Boten klar: „Der schießt.“

Erst als der dritte Schuss einschlägt, ist ihm wirklich klar: „Der schießt.“ Auf der Sprockhöveler Straße flüchtet er Richtung Bochum, sieht, dass der Mann ihm noch hinterherrennt. Als er ihn abgehängt hat, biegt er in eine Seitenstraße ein, versteckt sich.

Y. ruft zunächst seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass er ins Krankenhaus fährt – denn Glassplitter der Scheibe waren in sein linkes Ohr geflogen, aus dem es stark blutet. „Und ich habe nichts auf dem Ohr gehört, nur noch ein Piepen.“ Doch sie sagt ihm, er solle erst die Polizei rufen. Was er tut.

Erst spät bemerkt er, dass ein Geschoss im Finger steckt

Dann geht er Richtung Hauptstraße zurück, um dort auf die Beamten zu warten, hält einen Bus an, um ihn zu warnen, „dass da vorne einer schießt“. Die Polizeibeamten ziehen Y. den Handschuh aus – und da erst stellt er fest, dass ein Geschoss in seinem Zeigefinger steckt.

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„Den Knochen in meinem Zeigefinger hat das Geschoss zerbröselt.“ Splitter stecken auch in Ober- und Unterarm, sogar Teile der Fenstergummi-Dichtung. Im Krankenhaus steht gleich die Operation an. Knochenmaterial für den Finger muss aus Elle und Speiche entnommen werden.

Der Zeigefinger wird kürzer bleiben

Doch der Finger wird immer einen Zentimeter kürzer bleiben. Besonders dramatisch: Y. ist Linkshänder. Noch hat er kein Gefühl in dem Finger. Ob es wiederkommt, ist unklar. Das Raynaud-Syndrom verzögert zudem die Heilung. „Meine Adern mussten geweitet werden.“

Im Krankenhaus musste sich Y. erst mal an den Tagesrhythmus gewöhnen. Wenn hier das Mittagessen gereicht wird, schläft er normalerweise daheim noch. Denn um Mitternacht beginnt der Dienst mit der Abholung der Zeitung an der Sammelstelle. Dann geht es in die Stamm- und manchmal eben auch Aushilfsreviere. Gegen 6 Uhr endet die Schicht. „Dann ist der Gedanke doch schön, wenn ich die Ersten morgens Eis von ihren Autoscheiben kratzen sehe, dass ich selbst gleich ins warme Bett kann.“ Auch wenn er im Winter kaum Licht sieht.

Guten Kontakt zu WAZ-Lesern

Zur Weihnachtszeit gestaltet Y.s Mutter immer selbst Weihnachtskarten für all jene, die die Familie mit Zeitungen beliefert. Und viel Post kommt zurück. „Die meisten Leser sind unglaublich dankbar, dass wir ihnen die Zeitung bringen. Sie sind begeistert, wenn ich zum Beispiel auch in entlegene Gegenden bei Schnee die Zeitung pünktlich bringe.“

An seinem Beruf gefällt Y., dass er abwechslungsreich ist. Mal bediene er entlegene Täler, dann Waldgebiete oder Stadthäuser, manchmal müsse er viele Treppen steigen. Und das bei jedem Wetter. Sein Vater sagt lachend: „Das hält fit. Ich sage immer: Willst du fit bleiben. Dann komm zu uns.“ Und Y. nickt.