Hattingen. Flucht mit gehbehinderter und an Alzheimer erkrankter Mutter: Eine Familie aus der Ukraine mit russischen Wurzeln ist in Hattingen angekommen.

Zerrissen wirken Oxana Tretiakova und Valerij Tretiakov aus Kiew. Das Paar ist vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen – mit Oxana Tretiakovas gehbehinderter und an Alzheimer erkrankter Mutter Galina Vasilievna (82). Das Trio ist in Hattingen angekommen – und zerrissen zwischen grenzenloser Dankbarkeit für die Aufnahme und die Schönheit von Bredenscheid – und der Sehnsucht, schnell wieder nach Hause zu können.

+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Hattingen verpassen? Dann können Sie hier unseren Newsletter abonnieren. Jeden Abend schicken wir Ihnen die Nachrichten aus der Stadt per Mail zu. +++

Galina Vasilievna ist „100 Prozent Russin, Oxana zu 50 Prozent“. Galina Vasilievnas Schwester lebt in Moskau. „Sie sagt, dass man ja gar nicht wisse, wer die Bomben abwirft“, schüttelt Oxana Tretiakova den Kopf. Sie ist Ärztin, hatte zuletzt ein eigenes Institut zur Fortbildung von medizinischem Personal. Kontakt zu ihrer Tante hat sie nun nicht mehr. Die Familie ist zerrissen.

Ukrainern mit russischen Wurzeln gelingt Flucht

Brüder seien sie gewesen, Ukrainer und Russen. Und jetzt? „Wir waren auf dem Weg in die Demokratie“, sagt Tretiakov, „auch wenn es viel Korruption, viele Probleme gibt, aber wir waren in der Ukraine auf dem Weg.“ Diese Freiheit will der 76-jährige Diabetiker nicht hergeben. „In Russland leben die Menschen in einer Diktatur.“

Zerrissen ist das Paar, weil es glücklich ist über die in Hattingen gefundene Sicherheit – aber andererseits das Herz bei Sohn Dima ist, der in Lemberg sitzt. Wirtschaftswissenschaft studiert er, hätte jetzt in Kürze an einer Uni in Kanada lernen sollen. Doch ausreisen darf er nun nicht. Er sitzt in Lemberg fest.

Sohn Dima ist noch immer in der Ukraine

Dort hat das Paar ihn zuletzt gesehen. Auf der Flucht. Nach schweren Tagen. Denn nur noch im Hausflur im heimischen Kiew hatte das Trio zuletzt gelebt und geschlafen, weil die 82-Jährige nicht in den Keller konnte. Doch ans Weggehen hatten sie da trotz der heulenden Sirenen nicht gedacht.

>>> Unseren Newsblog zum Ukraine-Krieg finden Sie hier

„Aber der 1. März, 17.30 Uhr, hat alles verändert“, sagt Oxana. Der Fernsehturm in Kiew, eineinhalb Kilometer entfernt vom Haus der Familie, ist unter Beschuss. Raketen fliegen knapp darüber. Das ganze Haus vibriert. Sie hören die Explosionen. Menschen sterben.

Plötzlich wollen sie nur noch weg

Weg, nur noch weg wollen sie da, greifen am 2. März Papiere, Fotos, etwas Kleidung und gehen. Valerij zeigt auf seinem Handy Bilder vom überfüllten Bahnhof. Zwei Mal sinkt seine Schwiegermutter dort ohnmächtig zusammen. Menschen steigen einfach über sie hinweg. Nichts geht. Dann kommt von Nachbarn die rettende SMS. Eine Kirchengemeinde fahre Kinder und eingeschränkte Menschen raus aus der Stadt.

Lob für die hilfsbereiten Menschen vor Ort

Svetlana Weghaus ist begeistert, wie sich viele Menschen in Hattingen um die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kümmern. „Eine Sozialamtsmitarbeiterin brachte persönlich einen Rollstuhl, Freunde und Mitarbeiter von Familie Hugenbruch brachten Kleidung, einen Rollator. Teils ist gar nicht klar, woher das kam. Es stand einfach da.“

Zügig habe die Stadt eine Unterkunft für die Flüchtlinge gehabt. „Es ist toll, wie sich alle bemühen und freundlich sind.“

Über Nebenstraßen fährt der Bus nach Lemberg, zwölf Stunden lang. Immer wieder kommen ukrainische Soldaten in den Bus, kontrollieren Papiere, auch nachts. Sie leuchten mit Lampen – und Galina droht irgendwann mit ihrem Gehstock. Dem Paar bleibt fast die Luft weg. Doch die Soldaten lassen sie in Ruhe.

Flucht führt über Krakau und Düsseldorf

Sie haben das Ziel vor Augen: Hattingen. Von Krakau fahren sie mit dem Bus nach Düsseldorf. Der Sohn von Svetlana Weghaus holt sie ab. Denn die Ärztin Oxana ist eine Schulkameradin von Svetlana Weghaus, die vor 30 Jahren aus der Ukraine nach Hattingen kam. Die Diplom-Philologin für russische Sprache und Literatur unterrichtet an der Volkshochschule Deutsch als zweite Sprache. Immer ist sie mit Oxana in Kontakt geblieben. Als sie hörte, dass das Paar flüchten will, sagte sie: „Kommt her.“ Am 13. März kommen sie an. Nach zwölf Tagen. „Ein Wunder“ nennt Oxana das.

>>> Mehr Nachrichten aus Hattingen und Sprockhövel

Als Schutzengel sehen die Geflüchteten Svetlana Weghaus und Severine und Harald Hugenbruch vom Hotel-Restaurant „Zum Hackstück“. Denn sie versorgen die Geflüchteten nicht nur, sondern stellen ihnen auch ein Appartement zur Verfügung.

Flüchtlinge danken den Menschen in Hattingen

Und da sitzen sie nun auf der weißen Bank im Hügelland zwischen den Bäumen. Die Ruhe tut ihnen gut – und doch sind sie zerrissen. Ständig gehen Nachrichten in der Nachbarschafts-Whatsapp-Gruppe ein. Von jenen, die dort nicht wegkommen. Valerij liest sie auch nachts, wenn er mehrfach wach wird. Sein Körper ist hier. Seine Gedanken aber sind dort.

>>> Folgen Sie unserer Redaktion auf Facebook – hier finden Sie uns

In der Ukraine gibt es ein Sprichwort, sagt Oxana: „Manche Fremde sind wie Familie – und manchmal werden Familienangehörige zu Fremden.“ Dass sie das am eigenen Leib erleben muss, zerreißt sie. Sie weint. Vor Glück. Vor Angst. Vor Verständnislosigkeit. Vor Dankbarkeit für „die Güte, die Hilfe der Menschen in Hattingen“, die sie so warmherzig empfangen haben. „Dankeschön“, sagt Valerij am Ende des Gesprächs – und Oxana grüßt „Tschüss“.

Der Kühlschrank in Kiew läuft noch

Zuhause, in Kiew, da läuft noch der Kühlschrank. Sie ließen ihn an, als sie gingen. Weil sie hofften, immer noch hoffen, „dass bald alles vorbei ist und wir zurück können.“ Und dass sie den Helfern aus Hattingen zeigen können, wie schön es auch in Kiew ist.