Gladbeck. Das Abteufen des ersten Schachtes der Zeche Rieckchen 1873 veränderte das Leben im beschaulichen Dorf an der Gladebecke. Eine neue Epoche begann.
Gladbeck war ein verschlafenes Nest, als vor genau 150 Jahren – im Herbst 1873 – der Bergbau Einzug hielt: Draußen vor den Toren des Dorfes begannen die Abteufarbeiten für die Zeche „Rieckchen“. Die Gladbecker feierten das Ereignis – ohne zu ahnen, was auf sie und ihr dörfliches Leben zukommen sollte. Mit dem Start für Gladbecks erste Zeche wurde nämlich gleichzeitig das Fundament für die rasante industrielle und urbane Entwicklung des unbedeutenden Kirchspiels und seiner Bauernschaften hin zu der Stadt gelegt, die wir heute kennen. Es war nicht weniger als der Start in eine neue Epoche.
Den ersten Spatenstich bei den Abteufarbeiten nahm am 3. Oktober 1873 ein Mann namens Lindemann vor (Vorname unbekannt) – er war damit Gladbecks erster Bergmann. Als Standort des Pütts, zu seiner Zeit der nördlichste des Ruhrgebietes, hatte die Bergwerksgesellschaft das Gelände des Bauern Schulte-Rentrop in Butendorf ausgeguckt, dem sie 25 Morgen für 75 000 Mark abkaufte. Der genaue Schachtansatzpunkt lag 800 Meter südlich der Dorfkirche und 200 Meter westlich des an der Landstraße gelegenen Bauernhofes. Der nahe gelegene Wittringer Mühlenbach erlaubte eine leichte Ableitung der Abwässer, die Landstraße eine An- und Abfuhr der Kohle (die Horster Straße gab es noch nicht).
Erste Kohleförderung sorgt für Jubel bei Gladbecker Bevölkerung
Rund 80 Männer umfasste die Belegschaft in den Jahren der Abteufarbeiten. Die aber länger dauerten als gedacht – wegen der in großer Tiefe liegenden Kohle, wegen Wassereinbruchs und wegen zwischenzeitlichen Kapitalmangels. Erst im Januar 1876 erreichten die Pioniere die Kohleschicht. Am 22. Oktober 1877 – vier Jahre nach Beginn der Abteufarbeiten – erblickte die erste Kohle des Bergwerks Rieckchen (ab 1879 „Graf Moltke“, nach dem bekannten preußischen Feldmarshall) das Gladbecker Licht. Die Bevölkerung jubelte: Der Zwiebelturm von St. Lamberti war beflaggt, Böllerschüsse krachten.
Die ersten Probebohrungen hatten mutige Unternehmer noch während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 gewagt: Im November 1871 stieß der erste bei einer Bohrung 350 Meter nordwestlich der Dorfkirche (Ecke Postallee/Mittelstraße) in 338,72 Meter Teufe auf einen Steinkohlenflöz. Es dauerte aber noch einmal zwei Jahre, bis der erste Spatenstich für Gladbecks erstes Bergwerk erfolgte.
Graf Moltke in Gladbeck war zur Jahrhundertwende eine der modernsten Zechen
Schon zur Förderaufnahme der ersten Gladbecker Kohlengrube waren Tagesanlagen auf dem Feld entstanden: Kesselhaus, Malakowturm, Fördermaschine, Kaue und Verwaltungsgebäude. So veränderte sich in Gladbeck auch rein optisch das Leben. 1880 erhielt der Pütt einen Eisenbahnanschluss. Bis dahin hatte der Fuhrunternehmer Bischoff den Abtransport mit Pferdefuhrwerken erledigt. Mit dem Eisenbahnanschluss wuchs die Förderung rapide: Schon 1881 wurde die Grenze von 100.000 Tonnen überschritten. 1884 entschloss sich der Grubenvorstand, einen zweiten Schacht abzuteufen, der 1888 die Förderung aufnahm. 1889 kam eine Kokerei mit 50 Öfen dazu. Zu diesem Zeitpunkt waren 1326 Kumpel auf der Zeche angelegt. Rechnet man Frauen und Kinder dazu, war in jenem Jahr bereits Gladbecks Urbevölkerung (2776 im Jahr 1872) in der Minderheit.
Zur Jahrhundertwende zählte Graf Moltke zu den modernsten Zechen und entwickelte neue Pläne: Ganz in der Nähe sollte ein zweites Bergwerk als Großschachtanlage und Verbundzeche entstehen: Moltke 3/4. Im Mai 1900 begann – etwa 1,5 Kilometer südwestlich vom alten Pütt – das Abteufen des dritten Moltke-Schachtes. Am 1. April 1902 startete die Förderung, die Zeche galt lange als Musterbergwerk. Mehr und mehr wurde die gesamte Moltke-Förderung dorthin verlagert. Schon im Juni 1902 begann man mit dem Abteufen von Schacht 4. 1904 kam eine Kokerei mit 80 Öfen dazu. 1906 wurden über 1,1 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Die Belegschaft (mit 1/2) überschritt die 3000er Marke.
Verbundbergwerk mit Standorten in Gladbeck und Bottrop
Es ging Schlag auf Schlag weiter: Im August 1900 begannen in Rentfort auch die Abteufarbeiten der Möllerschächte durch den Unternehmer August Thyssen, schon 1901 nahm die Zeche den Betrieb auf. Thyssen verkauft das Bergwerk (Doppelschachtanlage mit den Rheinbaben-Schächten in Bottrop) schnell an den preußischen Staat. Verwaltet wurde sie fortan von der Königlichen Preußischen Berginspektion 2, die ihren Sitz am Bernskamp (heute Musikschule) hatte. Von Anfang an lief das Bergwerk gut: 1913 waren 7137 Männer auf den beiden Zechen angelegt, sie förderten über 1,8 Millionen Tonnen Kohle.
1902 wagte sich die Unternehmerfamilie Stinnes aus Essen auf das unwirtliche, sumpfige Terrain in Brauck: Das Abteufen der Zeche Mathias Stinnes 3/4 veränderte nachhaltig das Leben in dem spärlich besiedelten Teil des Kirchspiels. Die Braucker Schächte wurden als Doppelschachtanlage gebaut und untertägig mit Karnap (Stinnes 1/2) verbunden. 1905 wurde von gut 400 Kumpeln die erste Kohle in Brauck gehoben. 1910 kam eine Kokerei mit 65 Öfen dazu. Mehr als 1400 Bergleute förderten da mehr als 500 000 Tonnen.
Aus dem Dorf Gladbeck wird in kürzester Zeit eine florierende Industrieregion
Auch im grünen und gänzlich ländlichen Zweckel wurden die Bergbaupioniere fündig: 1908 begann das Abteufen der Zeche Zweckel, die zunächst „Potsdam“ hieß, auf einem Feld des Hofes Mertmann, nur wenige Wochen später folgte das Niederbringen von Schacht 2. Für 1911 ist die erste Förderung registriert. 1912 holten 448 Kumpel bereits 21 571 Tonnen Kohle aus der Grube, die von Anfang an eine Staatszeche war und unter Leitung der „Berginspektion 5“ mit dem repräsentativen Verwaltungsgebäude an der Feldhauser Straße stand. 1921 machten 2327 Kumpel 364 000 Tonnen Kohle.
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In kürzester Zeit war aus dem kleinen Dorf eine florierende Industrieregion geworden, die enorme Anforderung an die Gemeinde und ihre Menschen stellte und die ländliche Idylle nachhaltig veränderte. Zunächst kamen die zugewanderten Bergleute auf den Höfen unter, schnell entstanden aber die ersten Bergarbeiterhäuser: Die Zeche Graf Moltke baute 1888 die ersten 120 Bergarbeiterwohnungen – an Moltke- (heute Uhland-) und Sellerbeckstraße. Bis 1903 folgten Häuser an Kiebitzheide-, Land-, Phönix-, Wielandstraße. Mit den anderen Zechen entstanden weitere „Kolonien“, aus denen sich die Stadtteile entwickelten.
1971 endete die Gladbecker Bergbaugeschichte auch schon wieder
Über Jahrzehnte florierte der Bergbau, ließ Gladbeck wachsen und führte zur Stadterhebung 1919. Nach dem Krieg waren die Zechen der Motor für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder. Doch schon bald sollte der Strukturwandel dem „Schwarze Gold“ an den Kragen gehen: Bereits am 1. März 1963 wurde die Verbundzeche Zweckel/Scholven stillgelegt – als eine der ersten Pütts im Revier. Zum 1. April 1967 wurde die Kohlenförderung auf Möller/Rheinbaben eingestellt, im gleichen Jahr folgte in Brauck die Zeche Stinnes 3/4 (bis 1972 wurde Stinnes-Kohle noch in Karnap gefördert, der Schacht in Brauck war bis dahin noch Seilfahrtsstandort).
Am 12. November 1971 wurde schließlich die letzte Förderschicht auf Moltke 3/4 gefahren, nachdem die Förderung auf Moltke 1/2 bereits im Jahr 1932 eingestellt worden war, die Grube aber noch bis zum Schluss als Seilfahrtsstandort und der Bewetterung diente. Damit endete 1971 die Geschichte von Graf Moltke und des Gladbecker Bergbaus genau 100 Jahre nach den ersten Probebohrungen. Inzwischen wird seit mehr als 50 Jahren in der Stadt keine Kohle mehr gefördert, aber die Spuren der Zechen und Kumpel sind in Gladbeck bis heute präsent.
Eisenbahn als wichtiger Entwicklungsschritt
Ganz wichtig für die Entwicklung Gladbecks war die Eisenbahn: Sie kam 1880 mit der Bahnstrecke vom holländischen Winterswijk bis Gelsenkirchen-Bismarck, die auch am Dorf Gladbeck vorbeiführte. Am 21. Juli 1880 wurde sie eröffnet. Schon im September 1880 erhielt die Zeche Graf Moltke Anschluss an das Bahngleis. Die Bahnstrecke war für den Güterverkehr von größter Wichtigkeit, bedeutete aber auch für die inzwischen schon angewachsene Bevölkerung das „Tor zur Welt“.