Gladbeck/Essen/Bottrop. Essens Generalvikar Klaus Pfeffer spricht über Machtmissbrauch, die Abschaffung des Zölibats und die Frage, ob Priester Pornos schauen sollten.

Klaus Pfeffer, Generalvikar und damit zweiter Mann hinter dem Bischof im Bistum Essen, präsentiert in den Kirchengemeinden derzeit die Missbrauchsstudie und redet mit Betroffenen. Im Interview spricht er darüber, wie ihn der Skandal desillusioniert hat, was ihn besonders schockiert und warum man Priester fragen sollte, ob sie Pornos schauen und masturbieren.

Herr Pfeffer, seit mehr als zehn Jahren kümmern Sie sich in verantwortlicher Position um die Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt im Bistum Essen. Was macht das mit Ihnen persönlich?

Klaus Pfeffer: Für mich persönlich sind die vergangenen zwölf Jahre eine riesige Lerngeschichte. Als ich ins Generalvikariat wechselte, brach der Missbrauchsskandal gerade los. Das war für mich damals furchtbar, weil ich mir das überhaupt nicht habe vorstellen können. Ich war über viele Jahre in der Jugendarbeit der katholischen Kirche tätig, bin nie wirklich mit sexualisierter Gewalt in Berührung gekommen – und dann musste ich von Jahr zu Jahr in immer tiefere Abgründe schauen. Es hat mich im Blick auf meine eigene Kirche und auf meinen Priesterberuf an vielen Stellen desillusioniert, als ich sehen musste, was da alles über Jahrzehnte geschehen ist und wie Priester ihr hohes Amt benutzt und missbraucht haben – auch für Verbrechen.

Es ist eine Sache, eine Missbrauchsstudie zu lesen, eine andere, mit den Betroffenen zu sprechen. Was hat Sie in diesen Gesprächen am meisten bewegt?

Ein Schlüsselmoment für mich war die Begegnung mit einer jungen Frau bei einer Tagung in Würzburg. Sie war von einem Priester missbraucht worden. Sie stand vor mir und begann zu weinen. Sie sagte, sie sei noch nie zu einem Generalvikar vorgelassen worden und jetzt stünde sie vor einem und könnte ihm ihre Geschichte erzählen. Da ist mir deutlich geworden, wie wichtig es für Betroffene sein kann, dass hochrangige Vertreter der offiziellen Kirche ihnen zuhören, ihnen glauben und sich von ihrem Leid treffen lassen. Was mich bei ihr und danach bei vielen anderen Betroffenen besonders berührt hat, ist das unvorstellbare Ausmaß von sexueller Gewalt. Darüber relativ allgemein zu lesen, ist etwas ganz anderes, als von einem konkreten Menschen erzählt zu bekommen, was er alles erlitten hat. Das ist schwer auszuhalten – und es verändert alles.

„In einem Fall frage ich mich, warum mir nichts aufgefallen ist“

Sie sind jetzt 59 Jahre alt und schon über 30 Jahre in der Kirche. Wann wurden Sie zum ersten Mal mit Fällen sexualisierter Gewalt konfrontiert?

Konfrontiert worden bin ich mit Missbrauchsfällen erst nach 2010. Da ging eine Welle durch Deutschland, die Betroffene ermutigt hat, sich zu melden. Danach wurde ich auch mit Beschuldigungen gegenüber Priestern konfrontiert, die ich aus meiner eigenen Lebensgeschichte kannte – bis in die Jugendzeit hinein. Ich kann mich an einzelne Priester erinnern, bei denen ich erst im Rückblick denke, dass ihre Verhaltensweisen schon damals irgendwie eigenartig waren. In einem Fall frage ich mich, warum mir nichts aufgefallen ist. In den letzten Tagen dann sprach ich mit einigen anderen aus meiner Generation über einen inzwischen verstorbenen Priester, der vor allem jungen Männern zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte. Ich fand das eigenartig und unangenehm; die anderen auch. Aber wir nahmen das damals einfach hin. Niemand traute sich, eine Grenze zu setzen oder dies bei Verantwortlichen zu melden.

Auch interessant

Sie sagen selbst, dass Sie jahrzehntelang Teil des Systems waren, in dem Missbrauch möglich war. Sehen Sie eine Mitschuld bei sich selbst, dazu beigetragen zu haben?

Es ist für mich eine bittere Erkenntnis, Teil eines Systems zu sein, in dem ein solches Ausmaß an sexueller Gewalt möglich geworden ist. Ich frage mich deshalb auch sehr selbstkritisch, was ich dazu beigetragen habe, dass dieses System so ist, wie es ist. Mich haben die Erkenntnisse gerade der letzten Jahre sehr verändert. Darum sehe ich heute für die Verantwortung, in dieser Kirche alles zu verändern und zu überwinden, was Menschen gefährden und schaden kann.

Im Blick auf das Priesteramt ist für mich eine der wichtigsten Lehren, dass Menschen durch ein kirchliches Amt nicht auf einen Sockel gehoben werden dürfen, der sie dazu verführt, sich über andere Menschen zu erheben. Wer als Bischof, Priester oder Diakon meint, Gott näher zu sein als andere oder gar etwas Besseres zu sein, verkennt, dass ein geistliches Amt vor allem eine symbolische, repräsentative Funktion hat. Wer zum Priester geweiht wird, bleibt ein Mensch wie alle anderen auch. Mir hat eine Betroffene erzählt, dass ihr Täter zu ihr gesagt hat: „Wenn ich dich berühre, berührt dich Jesus.“ Das ist ein schrecklicher Auswuchs von Missbrauch eines kirchlichen Amtes, ein Missbrauch religiöser Macht.

Generalvikar Klaus Pfeffer: „Wäre ich zehn, zwanzig Jahre vorher in ein solches System hineingeraten, hätte ich vermutlich kaum anders handeln können als die damals Verantwortlichen.“
Generalvikar Klaus Pfeffer: „Wäre ich zehn, zwanzig Jahre vorher in ein solches System hineingeraten, hätte ich vermutlich kaum anders handeln können als die damals Verantwortlichen.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Bei der Präsentation der Studie vor einigen Tagen in Essen haben Sie gesagt, wären Sie zehn Jahre früher im Amt gewesen, hätten Sie vermutlich die Prioritäten auch anders gesetzt und dem Schutz der Institution mehr Bedeutung zugemessen als dem der Betroffenen.

Ich war ab Ende 2010 eine kurze Zeit für das pastorale Personal direkt verantwortlich und wurde dann 2012 Generalvikar. Ich habe in den Jahren danach schon oft gedacht, was ich für ein Glück gehabt habe, erst relativ spät in diese verantwortungsvollen Aufgaben gekommen zu sein. Wer in den 1980er- und 90er-Jahren in Personalverantwortung für den Klerus kam, wurde darauf gar nicht vorbereitet. Teilweise war die Personalarbeit ein „Closed Shop“, der fast ausschließlich von Klerikern wahrgenommen wurde. Das erklärt, warum es gerade in den damaligen Jahren vor allem darum ging, den eigenen Berufsstand und die Kirche zu schützen. Wäre ich zehn, zwanzig Jahre vorher in ein solches System hineingeraten, hätte ich vermutlich kaum anders handeln können als die damals Verantwortlichen.

Essener Generalvikar: „Priester sind hochgradig verunsichert“

Sie ziehen derzeit mit den Ergebnissen der Studie von Stadt zu Stadt. Was bekommen Sie da zu hören?

Es gibt sehr intensive, auch sehr emotionale Gespräche, aber sie sind alle sachlich und konstruktiv. Die Menschen werden nachdenklich, gerade diejenigen, die in unseren Gemeinden Verantwortung tragen. Deutlich wird, dass Prävention als eine gemeinsame Aufgabe verstanden wird. Alle, die in unserer Kirche und in unseren Gemeinden Verantwortung tragen und mitarbeiten, müssen das als wichtig erkennen. Sexuelle Gewalt kann nur eingedämmt werden, wenn möglichst viele Menschen wach und aufmerksam sind. Prävention muss deshalb viele Menschen erreichen und innere Haltungen verändern. Deshalb macht die Studie darauf aufmerksam, dass viele unserer Präventionsbemühungen möglicherweise noch keine Wirkung entfalten, weil die in den Gemeinden und anderswo entwickelten Schutzkonzepte entweder überfordern oder zu wenige Menschen daran wirklich beteiligt waren.

Bei der Präsentation in Essen hat ein Priester beklagt, dass so wenige Amtsbrüder anwesend waren. Sind die Priester desinteressiert oder haben sie Angst?

Ich kann das schwer einschätzen. Ich glaube, dass viele Priester im Moment hochgradig verunsichert sind, weil unsere Berufsgruppe massiv im Fokus steht und der Priesterberuf sehr grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wer selbst Täter kannte oder kennt, stellt sich möglicherweise selbst viele Fragen. Und ich bekomme auch mit, dass angesichts der öffentlichen Berichterstattung manche Angst haben, unter Dauerbeobachtung und Generalverdacht zu stehen.

Bei einer Präsentation der Studie sagte ein Vater: Wenn das mit seinen Kindern passiert wäre, hätte er den Priester erschlagen. Gehen solche Gewaltfantasien nicht zu weit?

Ich finde es erst einmal wichtig, dass bei unseren Präsentationen auch solche Emotionen zugelassen werden. Die Reaktionen auf Verbrechen sind in unserer Gesellschaft sehr schnell sehr emotional. Das ist erst einmal verständlich. Problematisch wird es, wenn es in eine Richtung geht, die Täter einfach nur vernichten und „weghaben“ will. Es ist nun mal so, dass wir auch mit Tätern von Verbrechen leben müssen. Die Frage ist: Was müssen wir tun, damit sie für andere nicht gefährlich sind, und wie kann es gelingen, sie vielleicht auch wieder zu resozialisieren? Und genauso wichtig: Was können wir tun, damit Menschen nicht zu Tätern werden?

Missbrauch in der katholischen Kirche: „Wut braucht Raum und ist berechtigt“

Sie sagten, dass es gut sei, wenn die Wut auch mal rauskommt bei diesen Gesprächsrunden.

Es ist niemals gut, wenn Wut einfach zurückgehalten wird. Sie braucht Raum und ist berechtigt, wenn man bedenkt, was geschehen ist. Aus der Wut kann dann, wenn sie ausgesprochen ist, auch eine große Kraft erwachsen, um für die Zukunft etwas zu verändern.

Ein Problemfeld, das die Studie benennt, ist die Struktur der Priesterseminare. Wie haben Sie Ihr eigenes vor 30 Jahren erlebt erlebt?

Ich selbst habe es im Rückblick als belastend empfunden. Es war keine wirklich schöne Zeit, weil sie sehr einengend war und manche Inhalte eher lebensfremd waren. So darf eine Ausbildung nicht sein, die auf einen Beruf vorbereitet, in dem es darum geht, sehr viel mit Menschen zu arbeiten und mitten im Leben zu stehen.

Auch interessant

Spielte Sexualität eine Rolle im Priesterseminar?

Nein, keine. Das ist im Rückblick schon bizarr: Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, was eine zölibatäre Lebensweise eigentlich bedeutet, fand nicht statt. Das kritisieren inzwischen sehr viele wissenschaftliche Studien. In der offiziellen Kirchenrhetorik wird der Zölibat als „kostbares Geschenk“ bezeichnet und völlig ausgeblendet, wie herausfordernd und schwierig diese Lebensform tatsächlich ist. Darüber wurde und wird zu wenig bis gar nicht gesprochen. Die Wissenschaftler unserer Studie decken schonungslos auf, wohin es führt, wenn über Sexualität überhaupt nicht gesprochen wird. Das kann brandgefährlich werden.

Dürfen Priester Pornos schauen und masturbieren?

Die Zeiten haben sich geändert und heute sprechen Sie offen darüber, ob Priester Pornos gucken und masturbieren. Wie kommt das an?

Ich habe bei einer Podiumsdiskussion zur Vorstellung der Studie die Fragen der Wissenschaftler zitiert, die in Interviews genau danach gefragt hatten: Dürfen Priester Pornos anschauen und masturbieren? Allein, dass ich diese Worte in den Mund nahm, löste ein Raunen im Saal aus. „Hat der Generalvikar das wirklich gesagt?“, fragte hinterher jemand. Die Wissenschaftler hatten auf diese Fragen keine Antwort bekommen. Und das war für sie ein Hinweis, wie schwer wir uns in der Kirche tun, über Sexualität zu sprechen. Das ist es, worauf die Studie aufmerksam macht: Wenn Sexualität nur mit Verboten und Tabus belegt ist, dann gibt es auch keine Sprachfähigkeit über Sexualität – und damit auch nicht darüber, wo Grenzen verletzt werden und Menschen sexuelle Gewalt angetan wird. Wir müssen also deutlich sprachfähiger werden, was Sexualität angeht – und sehr vieles in Frage stellen, was lange Zeit nicht in Frage gestellt werden durfte.

Sie sind für die Aufhebung des Zölibats?

Ja, das habe ich in den letzten Jahren schon oft sehr deutlich gesagt. Ich glaube, dass wir aus der Krise des Priesterberufs nur herauskommen, wenn wir uns zum einen von der Hypothek dieser Lebensform lösen und zum anderen auch von der einseitigen Begrenzung auf das männliche Geschlecht. Das Priesteramt ist doch keine Frage des Geschlechts oder der Sexualität; und es darf auch kein Instrument sein, um einzelnen Menschen einen höheren Rang zu verschaffen oder ein abgehobenes Standesbewusstsein zu pflegen. Priester – und hoffentlich irgendwann auch Priesterinnen – sollen Menschen dabei helfen, damit sie an den menschenfreundlichen Gott Jesu glauben können. Und sie sollen dabei helfen, diesen Glauben in das konkrete Leben zu übersetzen. Das verlangt hohe menschliche und vor allem hohe spirituelle Kompetenzen.