Essen. Das Ruhrbistum hat eine neue Studie zur Aufarbeitung sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche vorgestellt.
424 Seiten zählt die wissenschaftliche Studie zur „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen“ von 1958 bis heute. Im Internet ist sie herunterzuladen auf der Webseite aufarbeitung.bistum-essen.de. Ein zutiefst beklemmendes Werk, das die katholische Kirche weit über Essen hinaus aufs Neue erschüttern wird. Breiten Raum nehmen sechs sogenannte „Täterkarrieren“ ein: Mehrere dieser aufwendig rekonstruierten Lebensläufe übergriffiger und krimineller Kirchenmänner kreuzen sich in Essen, der Stadt des Bischofssitzes.
Das Forschungsteam des Münchener Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat dafür Interviews geführt sowie Geheimakten, Korrespondenzen und Personalakten eingesehen. Wer sich einliest in erschütternde Details dieser neuen Missbrauchsstudie, muss starke Nerven beweisen.
Johannes Norpoth, geboren 1967, hat mehrere Jahre seiner Kindheit in Essen verbracht. Er ist Sprecher der Betroffenen bei der Deutschen Bischofskonferenz. Bei der Pressekonferenz im Ruhrturm macht er ein „geschlossenes, männerbündisches System“ für die Missbrauchstaten von Klerikern verantwortlich. Ein Milieu, „das Kirche zu einem sicheren Ort für Täter, nicht aber für die Schwächsten gemacht hat“. Den Bischöfen, Generalvikaren und Personalverantwortlichen des Ruhrbistums wirft er vor, „menschenverachtend“ gewesen zu sein und „unsägliches Leid“ nicht verhindert zu haben.
Studie rekonstruiert „Täterkarrieren“ von Priestern – mehrere Essener Fälle
Die sechs Fallanalysen beginnen mit dem Priester Peter H. (Jahrgang 1947), der nach Darstellung der IPP-Forscher „mittlerweile zu den prominenteren Sexualstraftätern im Dienst der katholischen Kirche“ zählt. In der Studie firmiert er als „S. N.“.
Immer wenn er sich an minderjährigen Jungen in einer Pfarrgemeinde vergangen hat, wird er in eine andere Gemeinde abgeschoben, schließlich gar in ein anderes Bistum. Anstatt ihn zur Rechenschaft zu ziehen, zu bestrafen oder gar aus dem Kirchendienst zu entfernen, kann er sich nach den Versetzungen weiterhin an Messdienern oder Teilnehmern von Ferienfreizeiten vergehen. Essen-Rüttenscheid, Bottrop, Bistum München-Freising – die Liste der Tatorte ist lang.
„In den Akten sind mehr als 23 Betroffene durch sexualisierte Gewalt/sexualisierte Grenzverletzung . . . festgehalten“, heißt es in der Studie. In nüchtern formulierten Sätzen schildern die Forscher um Helga Dill und Malte Täubrich Peter H.’s abscheuliche Verbrechen: „Zwischen 1971 und 1973: oraler und analer Missbrauch über zwei Jahre. Der betroffene Junge war anfangs neun, am Ende 13 Jahre alt.“ Was besonders verstört: Peter H. soll bereits während seiner Zeit im Priesterseminar einen Neunjährigen über längere Zeit missbraucht haben. Dem Vernehmen nach lebt Peter H. heute zurückgezogen in Essen.
Betroffene sind Messdiener und Teilnehmer von Ferienfreizeiten
Die nächste Essener „Täterkarriere“ ist der inzwischen verstorbene Berufsschulpfarrer Hans J. (in der Studie: „K. M.“), gegen den nach Darstellung der Forscher sechs Meldungen von Betroffenen aus der Zeit zwischen 2010 und 2021 vorliegen. Es heißt, er sei besonders an „blonden Knaben“ interessiert gewesen. Die Taten selbst liegen bereits Jahrzehnte zurück. Protokolliert sind mehrere Fälle von sexuellem Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen – bei den Betroffenen handelt es sich um Messdiener und Teilnehmer von Ski- und Ferienfreizeiten. Die Tatorte sind mal das Pfarrheim oder die Dusche im Schwimmbad, dann sein Auto und die Dunkelkammer.
In mehreren Fällen hätten sich Missbrauchsopfer Erwachsenen anvertraut. Dass Hans J. sexuell übergriffig war, so die Studie, sei ein „offenes Geheimnis“ gewesen. Die Forscher zeichnen sogar das Bild eines mutmaßlichen Serientäters, der sich an eine „unbekannte Zahl anderer Kinder“ vergangenen haben soll.
Der Umgang des Bistums mit den Missbrauchsbetroffenen reiche von „totaler Ignoranz bis zu bemühter Wiedergutmachung“. Hans J. wird vom Bistum Essen zwar versetzt, doch seinem Ruf schadet dies nicht. Er belebt an neuer Wirkungsstätte die Jugendarbeit, baut eine lebendige Kolpingfamilie auf und erfreut sich „bald außerordentlicher Beliebtheit“.
Ende 2018 erstattete das Bistum Essen Strafanzeige gegen Hans J. wegen sexuellen Missbrauchs, außerdem wurden zwischenzeitlich kirchenrechtliche Verfahren eingeleitet. Im November 2019 erging ein bischöfliches Dekret, wonach J. den Gottesdienst nur noch privat – also ohne Gläubige – abhalten durfte. Mit unter 18-Jährigen durfte er sich auf Geheiß des Bischofs nicht mehr in geschlossenen Räumen aufhalten. Der Fall Hans J., so heißt es, habe letztendlich zur Spaltung einer kleinen Essener Gemeinde geführt. Anlässlich seines Ablebens erschienen wohlwollende Todesanzeigen.
Statt Strafe: Forscher diagnostizieren eine „Praxis der Versetzungen“
Die dritte Essener „Täterkarriere“ ist Michael P., Jahrgang 1949. In der Studie ist er „P. S.“. Der Geistliche hat seelsorgerisch in Katernberg und Rüttenscheid gewirkt, zuvor war er in Bottrop tätig, wo er die Nachfolge des berüchtigten Peter H. antrat. Die IPP-Forscher schreiben: „Mit Stand November 2022 liegen dem Bistum Essen sechs Meldungen über Betroffene von sexualisierter Gewalt durch P. S. vor.“ Die Fälle sind in den Jahren 1979, 1979/80, 1980, 1981, 1982, 1990 und 1991 passiert.
Bei den Betroffenen handelt es sich stets um Knaben oder männliche Heranwachsende. Auch hier halten die Forscher ernüchternd fest: „Der Umgang des Bistums Essen mit P. S. bis ins Jahr 2010 ist geprägt von einer Praxis der Versetzungen.“ Erst 1992 werden die Straftaten von Michael P. öffentlich bekannt, das Gericht verurteilt ihn zu einer 15-monatigen Bewährungsstrafe.