Gladbeck. Die Gladbeckerin Helga Frieß wird 100 Jahre alt. Ein Gespräch über Geheimnisse und warum man nicht einfach die Beine baumeln lassen kann.

„Ich bin in Gladbeck geboren. Und auch groß geworden. Das sehen Sie ja wohl.“ Helga Frieß lächelt ein verschmitztes Lächeln. Sie ist eine engagierte Erzählerin, und eine gute, sie weiß wann sie die Pointen setzen und wann sie schweigen muss, um ihren feinsinnigen Spitzen wirken zu lassen. Sie ist geduldig, und das, obwohl sie so viel zu erzählen hat. Helga Frieß wird am 28. März 100 Jahre alt.

Dass sie mal groß wird, nach ihrer Geburt im Jahr 1923 hätte man wohlbegründete Zweifel hegen können. „Ich habe anderthalb Pfund gewogen“, ihre Hände halten ihr imaginäres, winziges Säuglings-Selbst in die Luft. Heute sitzt sie in ihrem Zimmer im Seniorenzentrum Brauck, die Tage des kleinen Säuglings sind ein Menschenleben lang her. In Helga Frieß Falle sogar ein bisschen mehr als das.

Gladbecker Geburtstagskind: „Wir dachten, wie kriegen sie nicht mehr zurück.“

Tapete sieht man in Helga Frieß Zimmer kaum noch. Viele Erinnerungsfotos brauchen viel Platz. Ihre Kinder und Kindeskinder haben sich bei der Einrichtung viel Mühe gegeben, Tochter Bärbel Bruckwilder und Enkelin Andrea Schewe sind gerade zu Besuch. Das Geburtstagskind weiß das zu schätzen. „Die Kinder stehen mir alle zur Seite, das beruhigt mich.“

Im Halbkreise der Familie: Helga Frieß Tochter (l.) und Enkelin (r.) besuchen die Gladbeckerin oft im Seniorenzentrum Brauck.
Im Halbkreise der Familie: Helga Frieß Tochter (l.) und Enkelin (r.) besuchen die Gladbeckerin oft im Seniorenzentrum Brauck. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Die haben Helga Frieß auch schon in ihrer Wohnung gepflegt, bis sie 95 war, dann ging es nicht mehr. Vergangenes Jahr ist sie gestürzt und musste ins Krankenhaus, „da haben wir gedacht: Wir kriegen sie nicht mehr zurück“, sagt Bärbel Bruckwilder. Ihre Mutter war schwach, schlimmer noch, sie erkannte niemanden mehr.

Tipps für ein langes Leben: „Nicht die Beine baumeln lassen“

Nicht mal ihre Enkelin Andrea Schewe. Gemeinsam mit dem Rest der Familie entschloss sie, ihre „Ömsch“ aus dem Krankenhaus zu holen und wieder ins Seniorenzentrum zu bringen. Genau die richtige Entscheidung, zeigte sich, Helga Frieß kam zurück, auch im Kopf. Klar, das mit dem Laufen klappt noch nicht so gut. Aber dafür gibt es ja die Pfleger in Brauck. Oder, wie Frieß es formuliert: „Ich sitze im Rollstuhl, da kann ich ja nicht auch noch die Tassen abtrocknen.“

Helga Frieß macht sich aber auch Sorgen um die Menschen, die sich um sie kümmern. „Es gibt sehr wenig Personal, das macht die Arbeit für die Menschen noch anstrengender.“ Das Tagesgeschehen zu verfolgen ist für die alte Dame ganz selbstverständlich. Überhaupt, aktiv zu sein. „Heute morgen haben wir uns so kleine Bälle zugeworfen. Und Volleyball gespielt. Bewegung muss sein. Man kann ja nicht morgens aufstehen und die Beine baumeln lassen.“

Eine Jugend mit Musik

Viel los war bei Helga Frieß schon zu Kindheitstagen. Sieben Geschwister hatte sie („Ich bin die Letzte“), ihre fünf Brüder waren alle Musiker. Wenn die in den, damals noch zahlreich vorhandenen, Gladbecker Wirtschaften Musik machten, mussten sie die kleine Helga mitnehmen. „Ich saß dann in der Ecke und habe eine Zeitung gekriegt. Oder ich hab auch mal mitgetanzt.“ Gut aufgepasst haben die Brüder jedenfalls auf ihre kleine Schwester. „Sonst säße ich ja heute nicht hier“. Touché.

Viel zu erzählen: Die Gladbeckerin Helga Frieß hat eine Menge Geschichten auf Lager – und erzählt sie immer mit viel Humor.
Viel zu erzählen: Die Gladbeckerin Helga Frieß hat eine Menge Geschichten auf Lager – und erzählt sie immer mit viel Humor. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Überhaupt, die Kindheit. „Das war eine schöne Zeit. Wo viele Kinder sind, ist auch viel los.“ Verreist ist die Familie nicht, zu teuer, „der Vater war Alleinverdiener. Die Jungs haben zwar mit der Musik was verdient, aber die mussten Zuhause ja auch was abliefern. Die wollten schließlich was essen.“ Helga Frieß lächelt wieder.

Der Bundespräsident hat hundertjähriger Gladbeckerin schon gratuliert

Einen Menschen in Helga Frieß Alter möchte man ja beinahe reflexartig fragen, wie er überhaupt so alt geworden ist. „Nicht geraucht und nicht getrunken“, ruft die Enkelin von hinten, Helga Frieß grinst schon wieder und man ahnt: da kommt ein Spruch. „Stimmt“, bestätigt sie, hält inne und sagt trocken: „Schlimm, ne?“ Und im Ernst, was ist ihr Geheimnis? „Weiß ich auch nicht. Ich führe einfach ein ganz normales Leben.“

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Ihren Geburtstag will sie deshalb auch ohne viel Tamtam feiern. Ist bloß schwierig, wenn man schonmal 100 wird. Die Kinder haben einen Caterer organisiert, der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat selbstredend auch schon einen Brief geschickt. Bürgermeisterin Bettina Weist kommt vorbei, und ansonsten will Helga Frieß „mal gucken“. Obwohl, fällt ihr ein, singen würde sie gerne, hat sie immer schon. „In einem Polenstädtchen“ und das Kufsteinlied besonders.

Mit 100 hat man noch Pläne

Äußerst bescheiden ist Helga Frieß also auch noch. Einen kleinen Wunsch hat sie trotzdem, denn sie ist seit 23 Jahren Witwe. „Wenn ich wieder ein bisschen besser laufen kann, gehe ich vielleicht mal spazieren“. Ihre Lippen formen ein verschmitztes Lächeln, klar, was jetzt kommt. „Vielleicht find ich da jemanden, den nehm ich an die Hand, und dann hab ich einen Freund.“