Gladbeck. Die Statistik zeigt auch in Gladbeck eindeutig, dass die Verdachtsfälle zur Kindeswohlgefährdung zunehmen. Das sagen Fachleute zur Situation.

Die Anzahl der beim Jugendamt gemeldeten Verdachtsfälle, dass das Wohl eines Kindes durch Vernachlässigung oder psychische und körperliche Misshandlung gefährdet sein könnte, hat in Gladbeck weiter zugenommen. Fachleute gehen davon aus, dass die Einschränkungen in der Corona-Pandemie die Lage in Familien mit bereits belasteten Verhältnissen verschärft haben.

Das statistische Landesamt hat jetzt Zahlen für NRW veröffentlicht. Demnach sind 2020 den Jugendämtern landesweit 54.347 Fälle mit Verdacht auf Kindeswohlgefährdung angezeigt worden. Ein Plus von 9,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Gladbeck ist der Anstieg noch deutlicher. 2019 wurden 169 Verdachtsfälle gemeldet und 2020 waren es 256, dies bedeutet eine Zunahme um 87 Fälle oder 51,5 Prozent. 2016 wurden noch 134 Fälle gemeldet. Sinkende Zahlen sind auch dieses Jahr nicht zu erwarten. „Stand 4. August 2021 sind dem Jugendamt bereits 367 Verdachtsfälle gemeldet worden“, sagt Stadtsprecher David Hennig. Das ist schon jetzt ein Plus von 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Fachkräfte des Jugendamtes überprüfen jede Meldung

Brigitte Kleine-Harmeyer vom Caritasverband Gladbeck unterstützt und berät Familien, die Hilfe bei der Erziehung benötigen.
Brigitte Kleine-Harmeyer vom Caritasverband Gladbeck unterstützt und berät Familien, die Hilfe bei der Erziehung benötigen. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

David Hennig unterstreicht, „dass sich letztlich nur ein Teil der gemeldeten Verdachtsfälle als tatsächliche Kindeswohlgefährdung darstellen“. Fachkräfte des Jugendamtes würden aber selbstverständlich jeder Meldung nachgehen und die Situation in den Familien überprüfen. Dies geschehe, wenn nötig, in Abstimmung mit der Polizei und anderen Fachstellen, „denn der Schutz des Kindes steht an erster Stelle. Und das Jugendamt greift bei unmittelbarer Gefährdung sofort ein“, gegebenenfalls mit einer Inobhutnahme.

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Die Meldungen erfolgten von Ärzten, Schulen, Kitas, Familienangehörigen, Verwandten oder Nachbarn. Dies geschehe mittlerweile auch durchaus häufiger, „da die Medien die Öffentlichkeit stärker für das Thema sensibilisiert haben“. Gleichwohl führe das Jugendamt die steigenden Zahlen auch auf die Corona-Pandemie und die damit einhergegangenen Beschränkungen wie die Schließung von öffentlichen Jugendtreffs, Kindergärten oder Schulen im Lockdown zurück. „Dies hat den Druck auf Eltern erhöht, die nahe an der Überforderung sind“, so Hennig.

Die Corona-Pandemie überfordert belastete Familien

Dr. Peter Fischer,Vorsitzender des Kinderschutzbundes Gladbeck, sorgt sich, dass über die Ferien zu vielen Kindern aus belasteten Familien kein Kontakt bestanden hat.
Dr. Peter Fischer,Vorsitzender des Kinderschutzbundes Gladbeck, sorgt sich, dass über die Ferien zu vielen Kindern aus belasteten Familien kein Kontakt bestanden hat. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Das sieht Brigitte Kleine-Harmeyer, Abteilungsleiterin Kinder-, Jugend- und Familie des Caritasverbandes Gladbeck, auch so. „Wir erleben bei Kindern, die bereits in instabilen Verhältnissen gelebt haben, dass die Corona-Pandemie die Familien überfordert“, sagt die Leiterin der Frühförder- und Beratungsstelle. Gerade dann, wenn Entlastungsangebote nicht im gewohnten Umfang zur Verfügung stünden. Viele kinderreiche Familien lebten in Gladbeck in beengten Wohnsituationen, zudem oft in armen oder von Arbeitslosigkeit geprägten Verhältnissen, die wenig ermöglichten. Sie erfahre so jetzt häufig von den 180 betreuten Kindern und Familien in der Frühförderung, dass ohne Entlastungsmöglichkeit die Nerven schneller blank liegen und Eltern wie Kinder „häufiger in Streit geraten“. Auch die Erziehungsberatung des Caritasverbandes erlebe jetzt vermehrt Eltern, die sich an die Fachkräfte wenden, „weil durch die Pandemie und Lernrückstände Kinder neue Ängste und Zwänge haben“.

Unterstützungsangebote in Gladbeck

David Hennig verweist darauf, dass Gladbeck seit Jahren ein engmaschiges Netzwerk für den Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung für Familien aufgebaut habe. Die Palette der Unterstützung reiche von ambulanten Angeboten (Erziehungsberatung, sozialpädagogische Familienhilfe) bis hin zu stationären, und teilstationären Hilfen wie Tagesgruppen oder der Unterbringung außerhalb des Elternhauses. Ziel in der Pandemie müsse es sein, dass Entlastungsangebote (Freizeittreffs etc.), weiter geöffnet bleiben.

Brigitte Kleine-Harmeyer vom Caritasverband unterstreicht, dass Kindertagesstätten aufgrund der Sozialstruktur in Gladbeck eine ganz wichtige Rolle bei der Frühförderung der Kinder und Entlastung der Familien haben. Den Ausbau von fehlenden Kita-Plätzen voranzutreiben, sei daher eine wichtige von der Stadt angepackte Aufgabe. Die Beratung der Frühförderung ist unter 294930, und die Erziehungsberatung der Caritas unter 279165 zu erreichen.

Peter Fischer, Vorsitzender des Kinderschutzbundes Gladbeck, „sieht dem Ferienende mit etwas Sorge entgegen“. Denn während des Lockdowns und nun in den Ferien sei die Hausaufgabenbetreuung des Kinderschutzbundes ja geschlossen gewesen, „und wir haben lange keinen Kontakt zu den Kindern gehabt, von denen wir wissen, dass sie in schwierigen Verhältnissen leben“. Er hoffe nun, dass es zum Schulstart keinen Schrecken gebe, „wenn wir die Kinder wiedersehen, die dann zu uns in die Betreuung kommen“. Es sei nun mal leider ein trauriger Fakt, „dass statistisch aus jeder Klasse ein bis zwei Kinder sexuelle beziehungsweise körperliche Übergriffe erleiden“. Wobei die Anzahl aufgrund der Dunkelziffer wohl noch höher sei. Was in diesem Zusammenhang für die Strafverfolgung eine positive Entwicklung sei und ihn freue, sei, „dass sexualisierte Übergriffe auf Kinder endlich nach dem härteren Strafrecht als Verbrechen geahndet werden und nicht mehr nur als milderes Vergehen“.