Gladbeck. Trotz derzeit niedriger Infektionszahlen: Landrat Bodo Klimpel geht von vierter Welle aus. Diese Lehren zieht er aus der Corona-Pandemie.
Die Infektionszahlen sind aktuell niedrig im Kreis Recklinghausen. Doch Landrat Bodo Klimpel (57), dessen Kreisverwaltung einen großen Teil der Last in der Pandemiebekämpfung trägt, neigt bei der Bewertung der Lage nicht zur Euphorie. Er geht immerhin davon aus, dass eine mögliche vierte Welle nicht so schlimm ausfallen wird wie die dritte. Und er appelliert an die Bürger, Impfangebote wahrzunehmen.
Herr Klimpel, haben wir das Gröbste jetzt überstanden?
Es scheint so zu sein, aber wie wir wissen, kann der Schein auch trügen. Vor einem Jahr hatten wir ebenso niedrige Inzidenzen wie heute. Wie sich die Lage danach entwickelt hat, ist bekannt.
Was heißt das für die Kreisverwaltung?
Im Moment nutzen wir die entspannte Situation, um die Beschäftigten in den kritischen Bereichen durchatmen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auch mal ein paar Tage freizunehmen. Aber nach wie vor halten wir unsere Strukturen aufrecht, insbesondere in der Kontaktnachverfolgung.
Wie ist Ihre Prognose? Müssen wir uns auf eine vierte Welle einstellen?
Wir bereiten uns auf jeden Fall darauf vor. Die einzige Prognose, die ich wage, lautet: Die vierte Welle wird nicht so schlimm ausfallen wie die dritte.
Kein Verständnis für Impfverweigerer
Nennen Sie uns doch mal eine erfreuliche Erfahrung im Zusammenhang mit Corona.
Ich habe mich immer wieder gefreut über die E-Mails von Menschen, die davon begeistert waren, wie freundlich sie in unserem Impfzentrum behandelt worden sind. Das steht allerdings im Gegensatz zu der schroffen Art und Weise, wie genervte Bürger zuweilen mit den Kollegen der Kreis- und Stadtverwaltungen umgegangen sind. Dabei haben sich alle verdammt viel Mühe gegeben, um diese Krise zu bewältigen.
Was hat Sie besonders belastet?
Die vielen Menschen, die auch im Kreis Recklinghausen im Zusammenhang mit Corona verstorben sind, gehen mir sehr zu Herzen. Daran kann ich mich nicht gewöhnen.
Was denken Sie vor diesem Hintergrund über „Querdenker“ und Corona-Leugner?
Ich schätze die Meinungsfreiheit sehr. Sie ist ein Kernbestandteil unserer Demokratie. Doch wenn wie in dieser Pandemie bestimmte Grundrechte mit dem Infektionsschutz kollidieren, hat für mich der Schutz der Bevölkerung eindeutig Vorrang. Auch für Impfverweigerer habe ich kein Verständnis. Sie sollten sich mal mit dem überlasteten Personal auf den Intensivstationen über das Thema unterhalten. Allerdings bin ich gegen eine Impfpflicht.
Was sagen Sie zum Impffortschritt?
Dazu fällt mein Urteil positiv aus. Vor einem Jahr haben wir uns noch sorgenvoll gefragt, wann wir überhaupt den ersten Impfstoff bekommen. Heute sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung im Kreis durchgeimpft, 60 Prozent haben zumindest eine Erstimpfung erhalten. Natürlich hätten wir uns frühzeitig noch mehr Impfstoff gewünscht.
Zuletzt haben Meldungen überrascht, dass Impftermine in vierstelliger Zahl von den Bürgern gar nicht mehr abgerufen wurden. Wie erklären Sie sich das?
Vielleicht wollen die Leute im Moment nichts mehr von dem Thema hören, sich einfach nur noch auf den Sommer freuen. Ich kann das nachvollziehen, verstehen kann ich es nicht. Denn eine Impfung ist der beste Schutz. Ich kann nur an alle Menschen appellieren, die Chance auf eine Immunisierung wahrzunehmen, gerade auch im Hinblick auf die sich verbreitende Delta-Variante des Coronavirus.
In den zurückliegenden Monaten hat auch der Kreis einiges an Kritik einstecken müssen. Da ging es um überlastete Hotlines, abgewiesene Impfwillige oder strittige Quarantäne-Anordnungen.
Es sind sicherlich auch Fehler passiert. Berechtigte Kritik nehmen wir auf und versuchen, Konsequenzen daraus zu ziehen. Was die Quarantäne-Anordnungen betrifft, bitte ich um Verständnis für diejenigen, die diese Entscheidung treffen müssen. Im Zweifel hat das Durchbrechen der Infektionskette immer eine höhere Priorität. Das führt dazu, dass mancher länger in Quarantäne bleiben muss, als ihm lieb ist. Ich verstehe, dass das die Betroffenen nervt.
Welche Lehren ziehen Sie aus den beiden Corona-Jahren?
Wenn diese Pandemie hoffentlich irgendwann zu Ende ist, werden wir uns auf die nächste vorbereiten müssen. Wir werden all das, was gut funktioniert hat, konservieren und die Dinge, die nicht gut gelaufen sind, kritisch hinterfragen.
Können Sie Beispiele nennen?
Wir haben hausintern gute Erfahrungen mit dem Homeoffice gemacht. Wir haben festgestellt, wie wichtig die Digitalisierung ist; nicht nur in der Kontaktnachverfolgung, sondern – Stichwort Homeschooling – auch in der Bildung. In diesen Bereichen gibt es sicherlich noch Luft nach oben. Wir müssen dafür sorgen, aus dem Stand heraus wieder in den Distanzunterricht gehen zu können, falls es erforderlich ist. Damit diese Kriseninfrastruktur erhalten bleibt, sollte in den Schulen alle paar Wochen mal ein „Tag des Distanzunterrichts“ eingelegt werden. Auch im Infektionsschutz werden wir uns mit Unterstützung des Bundes breiter aufstellen. Im Rahmen des Paktes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst sind uns 18 Stellen zugesagt worden, die bereits in den Stellenplan 2021 aufgenommen worden sind. Zur Einordnung: 2020 verfügte das Kreisgesundheitsamt über rund 117 Stellen. Aber auch als Staat insgesamt werden wir uns Fragen stellen müssen. Hygiene- und OP-Artikel oder Rohstoffe für Medikamente müssen meines Erachtens wieder in ausreichender Größenordnung in Deutschland oder zumindest in der EU produziert werden. Auch das ist eine Lehre aus Corona.