Gelsenkirchen. . Was wünscht sich die Generation Y für 2019, was wollen die 20 bis 35-Jährigen anders machen? Ansichten einer politischen Generation
Was motiviert junge Menschen, sich in der Stadt mit der roten Laterne politisch zu engagieren? WAZ-Redakteurin Tina Bucek und Volontärin Lena Reichmann sprachen mit den Nachwuchspolitikern Philipp Johannknecht (25, Jusos), Michael Schmitt (20, Junge Union), John Petschek (26, Rotes Gesocks), Adrianna Gorczyk (31, Grüne) und Fabian Urbeinczyk (21, Junge Liberale).
Warum machen Sie hier Politik?
Philipp Johannknecht: Ich bin hier geboren und aufgewachsen und beobachte von Kindesbeinen an, wie die Stadt sich entwickelt. Ich finde, die Kommunalpolitik ist das Feld, wo man am meisten davon mitbekommt, zum Beispiel wie der Heinrich-König-Platz neu aufgebaut wurde oder generell den Ausbau der Bus – und Bahnlinien.
Fabian Urbeinczyk: Schon während meines Abiturs habe ich angefangen, mich verstärkt mit Politik auseinanderzusetzen. Dann kam die Flüchtlingskrise, und das hat die ganze Gesellschaft aufgebauscht. Jeder hat versucht, sich eine Meinung zu bilden. Das hat auch mich politisiert.
Adrianna Gorczyk: 2007 gab es eine Aktion der grünen Jugend auf der Bahnhofstraße, wo man Handabdrücke hinterlassen konnte unter dem Motto „Mach meinen Freund nicht an“. Es ging darum, dass Menschen mit Migrationshintergrund ankommen können hier in der Stadt. Das fand ich gut. Ich bin dann bei den Grünen eingestiegen, weil das für mich die einzige Partei ist, die nachhaltige und zukunftsorientierte Politik macht.
John Petschek: In Gelsenkirchen gibt es viele Probleme, die mich berühren: Dass Menschen im Mülleimer wühlen. Dass Kinder ohne winterfeste Kleidung rumlaufen müssen. Das hat mich zur Politik gebracht.
Michael Schmitt: Schon die Bundestagswahl 2013 hat mein Interesse für die Politik geweckt. In der Schule haben wir im Sozialwissenschafts-Unterricht oft Hart-Aber-Fair geguckt, wodurch mein Interesse an der Politik heranwuchs. Meiner Meinung nach darf nur derjenige Meckern, der sich beteiligt und zwar entweder durch Teilnahme an Wahlen oder durch politisches, gesellschaftliches Engagement.
Vor welchen Herausforderungen steht Gelsenkirchen 2019?
Urbeinczyk: Ich habe Angst vor einer noch größeren Spaltung. Die Politik sollte versuchen, die Menschen wieder mit humanen Themen zu erreichen, um in Gelsenkirchen wieder ein „Wir“ zu schaffen. Mit Populismus kommt man nicht weit.
Schmitt: Das ist auch meine Ansicht! Das Problem ist, dass die Bürger Ängste haben und man sich denen in Gelsenkirchen in den letzten Jahren nicht angenommen hat. Wir müssen auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen. Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit, das sind Themen, die die Bürger umtreiben. Als Lösungsansatz sehe ich da den Ausschuss für Sicherheit und Ordnung im Stadtrat.
Gorczyk: Viel wichtiger ist, dass Menschen vor Ort das Gefühl haben, dass sie sich aktiv einbringen können und Selbstwirksamkeit erfahren. Es gibt so viele ehrenamtlich Aktive, die sehr viel auffangen. Wenn das nicht passieren würde, wäre Gelsenkirchen schlechter dran. Das Rathaus müsste diese Menschen stärker einbeziehen, ihr Expertenwissen in politische Entscheidungen einfließen lassen. Viele Projekte, wie etwa Bemühungen auf Brachflächen in der Nachbarschaft Urban Gardening umzusetzen, scheitern an formellen Hürden.
Petschek: Die soziale Frage ist in Gelsenkirchen zu kurz gekommen. Um die 40 Prozent aller Kinder leben von Hartz IV. Diese Armut muss behoben werden. Aber auch andere soziale Bereiche müssen sich verändern. Ich sehe Pflegekräfte, die zwölf Tage am Stück arbeiten. Das ist für mich eine Strafe dafür, dass man sich entscheidet, Leuten zu helfen. Die Polizei ist auch unterbesetzt. Das sind Leute, die für die Menschen da sind. Die dürfen nicht im Stich gelassen werden. Und die Bildung muss dafür sorgen, dass junge Leute in Gelsenkirchen eine Chance haben. Ich hoffe, dass es 2019 wieder bergauf geht.
Johannknecht: Was auch ein wichtiger Faktor ist, sind Ungleichheiten zwischen Stadtteilen. Die muss man angehen. Wenn man sich in Schalke umguckt, sieht man ganz andere Bedarfsverhältnisse als in Buer.
Was ist das Rezept, um junge Leute zu erreichen?
Adrianna Gorczyk: Das Wichtige ist, mit allen Menschen im Privaten über Werte zu diskutieren. Was ist denn unsere Zukunft? Wo wollen wir hin? Was ist der Minimalkodex, auf den wir uns als Gesellschaft einigen können? Darauf kann man dann aufbauen. Denn wenn wir uns nicht mehr mit Respekt und Anstand auf der Straße begegnen, dann können wir noch so viele Programme machen, das wird dann nicht mehr ankommen. Es braucht den gesellschaftlichen Zusammenhalt, um eine gemeinsame Vision für Gelsenkirchen zu entwickeln.
Schmitt: Da hast du ja jetzt sehr schön die Leitkultur beschrieben! Viele Projekte funktionieren schon in Gelsenkirchen. Das Mehrgenerationenhaus an der Bochumer Straße. Oder die Präventionsräte in den Stadtteilen, wo auch die Probleme angesprochen werden. Aber ich merke leider auch, dass manche Leute die Schnauze voll haben und gar nicht mehr sehen wollen, dass was gemacht wird. Die ignorieren das.
Johannknecht: Es wird oft so dargestellt, als ob sich junge Leute gar nicht für Politik interessieren. Das sehe ich ganz anders. Erstmal muss man sich fragen: Wo ist Politik? Und das kann schon im Fußballstadion anfangen. Gerade in der Flüchtlingsbewegung gab es eine große Welle von Solidarität. Da sind zum Beispiel junge Menschen aufgebrochen und haben die Seenotrettung im Mittelmeer unterstützt. Das sind sehr politische Handlungen! Natürlich kann die Ochsentour durch die Partei frustrierend sein. Aber wenn man langen Atem beweist und Ideen mitbringt, dann kann man Erfolge erzielen. Das sieht man in der SPD in Gelsenkirchen: Viele junge Leute leiten Ortsvereine in unserer Stadt. Da hat sich in den letzten fünf Jahren also viel getan! Man muss sich dann eben auch mal aufstellen lassen, man muss dann mal einen Posten übernehmen. Engagement fängt im Kleinen an. Wir haben das Beispiel ,Warm durch die Nacht’. Ich arbeite gegenüber in der Gaststätte Rosi und habe ganz viele junge Leute kennengelernt, die da geholfen haben. Die haben das Problem erkannt und sind da wirklich dabei.
John Petschek (Linke) Foto: Michael Korte Petschek: Die Frage ist, warum sind so viele Menschen in Gelsenkirchen abgehängt? Wir haben keine Arbeitsplätze. Branchen sind in den letzten Jahrzehnten weggebrochen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen gar nicht erst zu ,Warm durch die Nacht’ gehen müssen. Wir müssen die Lücke schließen zwischen den Leuten, die in absoluter Armut leben, und denen, die mega viel Kohle haben und den Hals trotzdem nicht voll kriegen.
Schmitt: Die Stadt hat ganz viele Chancen verpasst, hier Arbeitgeber hinzuziehen. Beispiel: Ikea 2014. Da hat die Stadt sich aufgespielt, dass man das nicht wolle, damit hat man 400 Arbeitsplätze ausgeschlagen. Wenn jetzt wieder die Gewerbesteuer angehoben wird, kann ich auch verstehen, dass hier keine neuen Arbeitsplätze hinkommen.
Johannknecht: Bei Ikea kann man für und wider sprechen. Denn die Frage ist: Was passiert dann mit der Innenstadt? Hier wäre nichts gewonnen worden, wenn aufgrund der Ikea-Ansiedlung die Arbeitsplätze in den Zentren mittelfristig weggebrochen wären. Ich glaube nicht, dass die Stadt nichts tut. Sie tut etwas für Arbeitsplätze, wenn man sich mal Graf Bismarck, das Schalker Vereinsgelände oder den Nordsternpark anguckt, dann kann man sagen: Es passiert grad was.
Urbeinczyk: Es passiert zu wenig dafür, dass man so viele Projekte hier hin holen wollte. Und deshalb fühlen sich die Menschen abgehängt. Deswegen frage ich mich, was mich als Akademiker hier hält. Habe ich als BWLer hier in Gelsenkirchen die Chance, meinen Beruf auch auszuüben? Gründe ich hier ein Startup? Wieso soll ich nach Gelsenkirchen kommen, welche Infrastruktur herrscht hier, wenn ich hier überall Baustellen habe und es kein Baustellenmanagement gibt? Ich brauche gut funktionierendes Internet in der heutigen Zeit, aber das gibt es nicht flächendeckend. Und ich habe hier keine Fachkräfte mehr wegen der Langzeitarbeitslosigkeit. In Gelsenkirchen hat man den Strukturwandel verpennt. Mein Vater ist einer der letzten Bergleute auf Prosper gewesen. Aber das ist jetzt Geschichte. Ich als BWLer muss gucken, ob ich nach Essen gehe, nach Düsseldorf, nach Berlin oder München. Ich muss dahin gehen, wo das Geld ist.
Gorczyk: Startups finde ich sehr relevant. Als Kommune sind wir sonst zu stark abhängig von großen Playern, wie z.B. BP und Schalke. . . Wenn die weggehen, brechen hunderte Arbeitsplätze weg. Wenn wir nur auf große Unternehmen setzen, dann macht sich eine Stadt total erpressbar und baut sich selbst Druck auf, das ist nicht nachhaltig. Wenn jemand in Gelsenkirchen ein Startup gründet, dann will diese Person hier wirklich etwas gestalten und etwas für die eigene Kommune tun. Das Beratungsangebot der Stadt für solche Leute ist zu knapp.
Michael Schmitt (Junge Union) Foto: Michael Korte Schmitt: Ich würde da den Mittelweg aus Startups und „großen“, etablierten Unternehmen gehen. Wir bräuchten in Gelsenkirchen etwas, was uns von anderen unterscheidet in der Innenstadt. Denn was haben wir denn in Gelsenkirchen, was ein Alleinstellungsmerkmal ist?
Petschek: Genau so wichtig ist auch: Wie können Unternehmen hier bleiben? Im nächsten Jahr soll die Kurt-Schumacher-Straße für Dieselfahrzeuge geschlossen werden. Es darf nicht sein, dass Gelsenkirchener Unternehmer, die Dieselfahrzeuge besitzen, dafür bestraft werden und Probleme kriegen, weil VW mit seinen Abgaswerten betrogen hat. Die Politik muss dafür sorgen, dass alle Gelsenkirchener Unternehmen die Kurt-Schumacher-Straße weiterhin befahren dürfen.
Was machen Sie als neue Generation anders?
Johannknecht: Ich habe massiv viele Punkte, wo ich mit der großen Koalition unzufrieden bin. Die größten Bauchschmerzen hatte ich mit der Verabschiedung des Polizeigesetzes im Landtag, weil man ohne Not gegen unsere Parteitagsbeschlüsse vorgeht Das ist ein unfairer Umgang mit den Mitgliedern. Da müssen wir den Finger in die Wunde legen und sagen: Das wollen wir nicht und uns weiter einbringen, um für unsere Positionen Mehrheiten zu gewinnen, in der Partei und außerhalb.
Urbeinczyk: Ich denke einfach anders als Herr Buschmann, als Herr Kubicki. Wichtig ist, dass wir uns einbringen, dass wir unsere Meinung sagen – unabhängig davon, was die Älteren meinen.
„Der Rechtsruck birgt auch eine Chance“
Gorczyk: Ich glaube, es ist nicht eine Frage des Alters, sondern eine Frage der Erfahrung, und wie lange man schon dem Politikbetrieb anhaftet. Was ich beobachte, ist, dass die junge Generation einen anderen Kontakt miteinander pflegt, als die Ältere. Wir stehen zwar alle hinter unseren Parteien, aber wir schätzen auch sehr die Vernetzung und das offene Gespräch miteinander. Wir reden themenorientiert, das Machtdenken ist nicht so stark ausgeprägt. Weil wir wissen, dass wir alle an einem Strang ziehen müssen, um überhaupt Zukunft zu gestalten. Der Rechtsruck ist für uns dramatisch, aber er birgt auch die Chance, dass wir einander auf kommunaler Ebene wieder näher kommen.
Petschek: Ich würde die Überalterung stoppen durch verschiedene Konzepte. Eines von ihnen ist, den öffentlichen Nahverkehr frei zu machen. Wir müssen zusehen, dass wir den Braindrain stoppen. Von den Freunden meines Bruders sind alle aus Gelsenkirchen rausgezogen, die studiert haben. Und das ist der Grund, warum wir hier Überalterung haben. Weil die jungen Leute wegziehen.
„Viele junge Leute in Parteiämtern“
Schmitt: Wir sind in der CDU Gelsenkirchen sehr gut aufgestellt, so haben wir auch sehr viele junge Leute in Parteiämtern. Dies fängt schon mit unserem jungen Vorsitzenden Sascha Kurth an, jedoch sind auch viele junge Leute im Kreisvorstand und darüber hinaus in einigen Ortsverbänden sogar Vorsitzende, so wie ich es in der Neustadt bin.
Petschek: Ich muss sagen, für mein Engagement kriege ich viel Kritik. „Steinewerfer“ ist da noch das Harmloseste.
Gorczyk: Das hat auch etwas mit den Erwartungen zu tun, die Parteien an junge Leute stellen. Die Partei als Struktur erwartet, dass du erst mal zehn Jahre dabei gewesen sein und ein gewisses Standing haben musst, bevor du in Verantwortung gehen kannst. Aber es sollte auch andere Möglichkeiten geben für Menschen, sich einzubringen. Junge Frauen, die Kinder haben, Alleinerziehende, all diese Menschen machen nicht Politik, weil die Parteiangebote sich nicht an ihren Bedürfnissen orientieren. Parteien müssen sich deshalb anpassen und mehr projektbezogene Mitarbeit zulassen. Wir könnten offener sein. Wir könnten Menschen mehr mitnehmen.
„Ich habe den Eindruck, wir wollen das!“
Schmitt: Unsere Generation hat sowieso ein Problem, sich zu binden. Vielleicht ist es nicht mehr zeitgerecht wegen der Schnelllebigkeit. Vielleicht haben die jungen Leute Angst davor. Aber die Angst würde ich ihnen gerne nehmen.
2019: Schaffen wir das?
Gorczyk: Wenn wir das wollen, schaffen wir das. Und ich habe den Eindruck, wir wollen das.
Urbeinczyk: Ich glaube, wenn wir offen für Neues sind und auch zusammen anpacken, schaffen wir das. Wenn wir nicht immer sofort nein sagen, sonst einfach mal machen.
Schmitt: Wir schaffen das, wenn wir mehr miteinander diskutieren und nicht auf rechte und linke Ideologien hereinfallen.
Johannknecht: Was mich sehr optimistisch gestimmt hat: Wie knapp 2000 Menschen auf dem, Heinrich-König-Platz gegen die Nazis demonstriert haben. Das hat mir gezeigt, dass unsere Stadtgesellschaft zusammenhalten kann. Das ist auch 2019 möglich. Wir leben in einer Stadt, die auch in der Vergangenheit unter Beweis gestellt hat, dass sie Herausforderungen meistern kann.
Petschek: Wir schaffen das, wenn wir den Franzosen in uns wiederfinden. Wir müssen uns als Vorbild die Gelbwesten nehmen, auch wenn ich Gewalt nicht unterstützen. Aber wir müssen als Gelsenkirchener den Mund aufmachen und aufstehen.