Gelsenkirchen. . Seit fast einem Jahr lernen am Schalker Gymnasium in Gelsenkirchen Regelschüler mit Kameraden, die Förderbedarf haben. Ein Einblick in den Schulalltag.

Wie Orgelpfeifen stehen die 25 Schüler der Klasse 5a des Schalker Gymnasiums zur Begrüßung da. In Biologie geht es heute um Pflanzenwachstum. Soweit nichts Ungewöhnliches für ein 5. Schuljahr. Einziger Unterschied zu anderen Gelsenkirchener Gymnasien: Sechs Kinder mit besonderem Förderbedarf lernen gemeinsam mit Gleichaltrigen. Während überall Fragezeichen hinter dem Wort Inklusion stehen, wird sie hier seit fast einem Jahr täglich gelebt.

In einem Wettbewerb haben die Schüler daheim Senfkörner unter wechselnden Bedingungen wachsen lassen. Stolz tragen die Schüler die Früchte der Arbeit zum Vergleich auf das Lehrerpult. Wer ist Förderschüler, wer Regelschüler? Die Frage können selbst erfahrene Pädagogen, die die Modellklasse regelmäßig besuchen, oft nicht beantworten. Sechs Schüler haben den Förderschwerpunkt Lernen, einer auch den Schwerpunkt „körperlich-motorische Entwicklung“.

Die Arbeitsblätter, die Lehrerin Friederike Volkmer-Tolksberg als austeilt, sind den Fähigkeiten angepasst. Die Texte über das Pflanzenwachstum sind bei Förderschülern kürzer und einfacher. Statt offener Fragen gibt es Lückentexte. Auch innerhalb der Fördergruppe ist das Material nach Leistung differenziert. Bei der Bearbeitung behilflich und ständig präsent ist Förderpädagoge Christian Urban. Der Sitzplan ist so gewählt, dass ein Regelschüler gemeinsam mit einem Förderschüler lernt. So arbeiten die Schüler mit und ohne Förderbedarf zusammen, statt nebeneinander her.

Keine Spur von Ausbremsung oder Überforderung

Keine Spur davon, dass ein stärkerer Schüler ausgebremst oder ein schwächerer überfordert wird. Während die Schüler in Gruppenauflisten, was sich positiv aufs Senfwachstum ausgewirkt hat, ist zu erkennen, wie sich die Schüler gegenseitig helfen und Verantwortung übernehmen. „Ich helfe gerne und wenn mein Mitschüler aufzeigt, versuche ich schon vorher die Frage zu beantworten“, sagt der sichtlich engagierte Carl am Ende der Doppelstunde selbstbewusst.

Zuvor haben je zwei Schüler die Ergebnisse einer Partnerarbeit vor der Klasse präsentiert. Vieles fällt den Regelschülern leichter. Das Lehrer-Tandem greift den Förderschülern immer wieder unter die Arme. Wirkt sich das nicht demotivierend auf die anderen aus? „Die Verantwortung für die Ergebnisse tragen ja immer beide Schüler“, so Christian Urban. „Wir achten darauf, dass der Unterricht stets zielführend bleibt.“

Es wird immer mit zwei Pädagogen unterrichtet, teilweise sogar zu dritt. Auch steht ein zweiter Raum zur Verfügung, um zielgerecht oder individueller zu lehren. „In dieser Klasse, mit diesen Schülern und in diesem Team klappt Inklusion hervorragend“, zieht Klassenlehrerin Volkmer-Tolksberg ein positives Zwischenfazit. Wohl wissend, dass es bei anderer Struktur und arbeitsintensiveren Förderschwerpunkten ganz anders sein kann.

Von der Angst, zu wenig Fachpersonal und Raum zu haben 

Alle Schulformen sollen bei der Herkulesaufgabe Inklusion berücksichtigt werden. Der gemeinsame Unterricht kann vor allem am Gymnasium schnell an Grenzen stoßen. Die Schere geht bei Förder- und Regelschülern weit auseinander. „Wir haben uns ein Jahr intensiv vorbereitet“, bestätigt Schulleiterin Angelika Philipp.

An einem Bochumer G8-Gymnasium und der Mulvany-Realschule in GE-Bismarck habe man im Vorfeld hospitiert. Das gesamte Kollegium hat an zwei Fortbildungen teilgenommen. „Das ist ein Bereich, der in der Ausbildung keine Rolle gespielt hat“, so Philipp. Jetzt ist das Schalker selbst zum beliebten Vorzeigeobjekt für Schulen geworden, die bald ins kalte Inklusionswasser geworfen werden.

Unterricht immer in Doppelbesetzung

So viel gemeinsamer Unterricht wie möglich, nur so viel Differenzierung wie nötig – so lautet das Ziel an der Liboriusstraße. „Ich stehe voll und ganz hinter der Inklusion“, sagt die Schulleiterin, „aber immer in Doppelbesetzung“. Und auch am Schalker sind längst nicht alle Fragen geklärt. Was ist zum Beispiel mit Werk- und Hauswirtschaftsunterricht, der für viele Förderschule im Lehrplan steht? „Dafür haben wir keine Lehrer und keine Räume.“ Angelika Philipp befürchtet daher, dass Förderkollegen nicht im benötigten Umfang zur Verfügung stehen könnten. „Spätestens, wenn die zweite Fremdsprache kommt, ist gemeinsamer Unterricht nicht mehr möglich.“ Die Stadt bemühe sich sehr fürsorglich. Und auch die Eltern der Regelschüler ziehen mit. „Es gab genug Eltern, die das gezielt wollten oder die dafür offen waren“, weiß Philipp aus einer Befragung.

Die Inklusion am Schalker soll in den folgenden Jahrgängen fortgeführt werden. Die Bezirksvertretung Mitte hat dem Neubau eines Pavillons mit sechs Differenzierungsräumen zugestimmt. Kostenpunkt: 658.000 Euro.

Förderziel ist das bestmögliche Ergebnis

„Ich habe immer das individuelle Lernziel der Förderschüler im Blick“, beschreibt Förderpädagoge Christian Urban seine Arbeit. Am Ende der Schullaufbahn stehe nicht das Abitur, wie am Gymnasium üblich, sondern allein „das bestmögliche Ergebnis“. In der Regel sei dies der Förderschulabschluss, manchmal der Hauptschulabschluss nach Klasse neun. Noten bekommen die Förderschüler nicht, stattdessen Berichtszeugnisse.

Ungleich behandelt fühlen sich die anderen deshalb nicht. „Die Neugierde bei den Schülern ohne Förderbedarf ist groß“, freut sich Friederike Volkmer-Tolksberg. Man müsse nur erklären, warum gewissen Dinge anders ablaufen.

Unterstützung bekommt die junge Lehrerin von einer weiteren Förderpädagogin, die sich mit Urban eine Stelle teilt. Zusätzlich gibt es am Schalker Gymnasium für die Koordination, Konzeption und Organisation der Inklusion eine ganze Stelle. Christian Urban blickt auf eine neunjährige Erfahrung als Förderkraft in den USA zurück. „Dort muss Inklusion vom Gesetzgeber her seit Langem praktiziert werden“, so der 38-Jährige. Die Klassen seien kleiner, man sei personell besser aufgestellt. Für Mathematik und Englisch gebe es getrennten Unterricht, um dem individuellen Lernfortschritt gerecht zu werden. Urban: „Das machen wir hier auch, aber wir sind noch am Anfang.“