Gelsenkirchen. Es klingt leichter, als es ist: Frohe Weihnachten klappen nur, wenn die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt sind. Und die Familie rechtzeitig vorher besprochen hat, wer denn nun als Gast kommen darf, ob der Nachwuchs am späten Abend noch in den Club darf, an welchem Tag die Kinder aus Patchworkfamilien wo sind und ob es ein Fünf-Gang-Menü sein soll oder lieber ein entspanntes, schlichteres Mahl.

Drei tolle Tage, das sollen sie sein. Nein, die Rede ist nicht von Karneval. So jeck können Narren kaum sein wie Weihnachtsperfektionisten. Friede, Freude, Weihnachtsgans harmonisch im Kreis der Lieben, 72 Stunden lang: Das muss man wollen. Und ganzjährig geübt haben. Sonst ist das Projekt zum Scheitern verurteilt, warnt der Experte.

Diplom-Psychologe Wolfgang Schreck berät im städtischen Auftrag Familien bei verschiedensten Problemen im Alltag. Auch Weihnachten ist dabei ein Thema – das er schon im Oktober anspricht. Printen gibt es dann ja auch schon. „Es ist wichtig, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, wie Weihnachten verlaufen soll. Wenn jeder stillschweigend voraussetzt, dass die anderen die gleichen Erwartungen daran haben, kann das zum Problem werden.“ Wenn Vater oder Mutter glauben, ein aufwendiges Drei-Gang-Menü sei unverzichtbar und ein Stimmungsgarant – der Partner oder die Kinder das aber gar nicht so wichtig finden, sondern sich eher entspanntere, nicht gestresste Eltern wünschen. Was auch vorher besprochen werden sollte: wenn Geschenkwünsche nicht erfüllt werden können und welche Gäste kommen dürfen, wen man besuchen will. Sowas sollte geklärt werden, BEVOR Einladungen ausgesprochen werden.

Diplom-Psychologe Wolfgang Schreck arbeitet als Familienberater in der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern im Schweizer Dorf. Das Thema Weihnachten spricht er meist schon im Oktober an. Vor allem in Trennungsfamilien.
Diplom-Psychologe Wolfgang Schreck arbeitet als Familienberater in der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern im Schweizer Dorf. Das Thema Weihnachten spricht er meist schon im Oktober an. Vor allem in Trennungsfamilien. © Michael Korte

Auszeiten an Festtagen gönnen

Frühzeitig und verlässlich besprochen werden muss vor allem, bei wem Kinder aus Patchworkfamilien welchen Weihnachtstag verbringen. Und auch die Kinder sollten unbedingt befragt und berücksichtigt werden. „Wenn Kinder etwas zum Spielen zu Weihnachten bekommen haben, möchten sie damit auch spielen. Und nicht beide Feiertage auch noch mit Familienessen und Besucher verbringen. Überhaupt sollten alle sich Auszeiten an den Festtagen gönnen. Mal Spazieren gehen, für Abwechslung sorgen.“ Wer nicht ohnehin das ganze Jahr über eng mit der ganzen Familie zusammensitzt, sollte nicht glauben, dass das beim Weihnachtsmarathon ganz selbstverständlich funktioniert.

„In den meisten Familien ist Weihnachten schön und alles funktioniert. Aber wer zu viel davon erwartet, sich mit Terminen und Besuchen vollstopft, kann Probleme bekommen.“, warnt Schreck.

Wie die Festtage am besten gelingen, dafür gebe es kein allgemeingültiges Rezept, nur individuelle Empfehlungen. Klar sei aber: Weniger ist oft mehr. Wer zu hohe Erwartungen und zu viele Termine hat, läuft Gefahr, enttäuscht zu werden.

„Dass Weihnachten Stress bedeuten kann, das war schon immer so. Aber früher gab es mehr Rituale. Die machen Manches einfacher, einfach weil dann eine Struktur vorgegeben ist. Der Messe-Besuch, das gemeinsame Singen,“ erklärt der Diplom-Psychologe. Aber auch das seien keine Allheilmittel für jedermann.

„Frohe Weihnachten“ – der Wunsch klingt so einfach....

Zahl der Kinder, die aus Familien genommen werden, steigt zum Fest

Im Januar werden 30 Prozent mehr Scheidungsanträge eingereicht als im übrigen Jahr, sagt die Statistik. Sicher nicht allein, weil Pralinen oder Socken nicht das ersehnte Geschenk waren. Eher, weil das geballte Familienleben die Konflikte aufgezeigt hat. Notare wissen zudem, dass zwischen den Jahren besonders viele Testamente geändert werden. Weil sich die Familie ganz und gar nicht so verhalten hat, wie erwartet bzw. erwünscht.

Frauenhäuser sind über die Festtage bis in den Januar regelmäßig ausgebucht. Auch das Gelsenkirchener Frauenhaus verzeichnet nach den Festtagen meist Belegungsspitzen. Wobei das Haus allerdings ohnhehin mehr als gut ausgelastet ist, häufig Hilfesuchende aus Platzmangel an andere Häuser überweisen muss.

Kinder sind stets die Hauptleidtragenden bei Familienstreitigkeiten. Natürlich nicht nur zum Fest.
Kinder sind stets die Hauptleidtragenden bei Familienstreitigkeiten. Natürlich nicht nur zum Fest.

Das städtische Jugendamt kennt keine Feiertage. Jedenfalls ist die Rufbereitschaft 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr im Dienst. Und erfahrungsgemäß, so Referatsleiter Alfons Wissmann, „kommt es über die Feiertage und bis in den Januar hinein deutlich öfter zu Inobhutnahmen von Kindern bzw. zu Situationen, wo unsere Mitarbeiter eingreifen müssen. Unsere Bereitschaftspflegeeltern stehen ebenfalls parat, falls Kinder unter drei Jahren betroffen sind. Ansonsten kommen größere Kinder zunächst in die Notaufnahmestelle.“

Bei der Telefonseelsorge melden sich die Enttäuschten nach Heiligabend

Am Heiligabend selbst herrscht gar nicht wirklich mehr Betrieb als sonst bei der Telefonseelsorge. Offenbar sind die Herzen der Nachbarn und Angehörigen an jenen Tagen offener, ist man eher bereit, einsame Menschen für ein paar Stunden einzuladen, vermutet Olaf Meyer, dessen Duisburger Mitarbeiter mit den Gelsenkirchenern kooperieren. Nur vor drei Jahren, als es über Weihnachten so stark schneite, dass viele Familienbesucher im Schneegestöber stecken blieben, riefen deutlich mehr ältere Menschen an, die mit der ausgefallenen gemeinsamen Feier Probleme hatten.

Pfarrer Werner Korsten von der evangelischen Telefonseelsorge in Essen, die für den Gelsenkirchener Bereich zuständig ist, hat die Erfahrung gemacht, dass sich weniger die Zahl der Anrufer ändert – „mehr geht sowieso kaum bei 40.000 Anrufen in unserer Region im Jahr“ – als vielmehr die Themen. Weihnachten rufen viele Enttäuschte an. Weil der Ehemann entgegen seinem Versprechen doch wieder getrunken hat. Weil das ersehnte Geschenk nicht gekommen ist – oder weil die Kinder um neun Uhr in die Disco verschwunden sind, obwohl sie das nicht einmal angekündigt hatten.

Silvester dann gebe es die Jahres- und Lebensbilanzen. Dann sind viele wirklich allein, weil zu Silvester nur selten aus reiner Menschenfreundlichkeit eingeladen wird. Der Heilige Abend selbst ist nach Einschätzung von Peter Heun, dem Leiter der Katholischen Telefonseelsorge, eher ruhig. Aber am ersten und zweiten Feiertag häufen sich dann wieder die Anrufe, weil die ersten Brüche in den Beziehungen fühlbar werden, die ersten Enttäuschungen sich breit machen.