Gelsenkirchen. Die Bauarbeiten in Katar für die Fußball-WM 2022 laufen bereits auf Hochtouren. Dietmar Schäfers hat sich mit seiner Gelsenkirchener Gewerkschaft einen Überblick über die Verhältnisse verschafft, in denen die Arbeiter leben müssen. Er ist entsetzt über diese Form modernen Sklaventums.
Eigentlich war alles klar, die Reise seit Monaten vorbereitet, Termine vereinbart. Wie immer, wenn die europäische Gewerkschaftsdelegation zu den angehenden Spielstätten sportlicher Weltereignisse reist, um sich vor Ort die Bedingungen auf den Großbaustellen anzuschauen. Eigentlich.
Denn dann deckten Journalisten des Guardian die zum Teil menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen im reichen Wüstenland Katar auf. Erschüttert reagierte die westliche Welt auf die Zustände in dem Land, das der Ex-Schalke-Liebling Raúl zu seiner Wahlheimat auf Zeit gemacht hat. Auch Dietmar Schäfers, stellvertretender Bundesvorsitzender der IG Bauen-Agrar-Umwelt und Vorstandsmitglied der Bau- und Holzinternationalen mit Sitz in Genf, horchte schockiert auf. Und packte in Buer weiter seine Koffer.
Keine Meetings mit Regierungsbehörden
Doch drei Tage vor dem Abflug, am 3. Oktober, kam die Absage aus Katar: Keine Meetings mit Regierungsbehörden, keine sonstigen Treffen, auch nicht bereits vereinbarte. „Wir haben die Lage in einer Telefonkonferenz mit den beteiligten europäischen Gewerkschaften besprochen“, erzählt Schäfers nach seiner Rückkehr. Zwar hätten einige Bedenken gehabt, „aber wir sind trotzdem geflogen und mit Touristenvisa eingereist.“ Asiatische Kollegen hätten schon zwei Wochen zuvor die Lage ausgespäht „und uns gesagt, wo wir genau hingucken müssen“. Ein neuralgischer Punkt: Workers Camps in Al Khor.
Vor Ort dann die überraschende Wende: Die Gewerkschafter erhielten vom National Human Rights Committee (NHRC) die Nachricht, man sei nun doch bereit, der Delegation alles zu zeigen, was sie wolle und auch einen Bus zur Verfügung zu stellen.
Gewerkschafter sehen nur echtes Vorzeigecamp
„Soweit die Theorie“, sagt Schäfers im Gespräch mit der WAZ mit sarkastischem Unterton. Natürlich hatte die Delegation zur Bedingung gemacht: Wir wollen nach Al Khor. „Daran ist der Bus allerdings vorbei gefahren.“ Stattdessen wurde den Gewerkschaftern ein echtes Vorzeigecamp für 47.000 so genannte Migrant Workers unterschiedlicher Herkunft präsentiert. Zwei-Bett-Zimmer, Sportanlagen, Freiluftkinos, gute sanitäre Anlagen. „Wirklich ganz hervorragend“, sagt Schäfers, der vor Ort indes angesäuert war. „Mein schwedischer Kollege und ich hatten den Kaffee auf.“ Die beiden fuhren auf eigene Faust nach Al Khor.
Was sie dort sahen, bringt Schäfers so auf den Punkt: „Da laufen dir die Tränen.“ Zehn zumeist indische Arbeiter in einem Raum, Liegeflächen mit Auflagen statt Matratzen, schlechte hygienische Zustände: Toiletten außen, Waschgelegenheiten ebenso. „Menschenunwürdig“, kommentiert der Gelsenkirchener. Andere Gewerkschafter aus der europäischen Gruppe machten an anderen Orten ähnliche Entdeckungen. Dietmar Schäfers beschreibt die Situation der Arbeiter, die er kennen gelernt hat: „Da trifft man junge, hoffnungsvolle indische Männer, die in ihrer Heimat Geld an eine Vermittlungsagentur gezahlt und Verträge abgeschlossen haben.“
Der Bus fährt morgens um 3.30 Uhr
Die Realität: bittere Enttäuschung. Die Verträge galten nicht mehr, die vereinbarten Löhne auch nicht. Morgens um 3.30 Uhr mit dem Bus zur Arbeit, die um 6 Uhr beginnt. Spätabends wieder zurück. „Die Freizeit reicht für Katzenwäsche und ein bisschen quatschen.“ Und wer morgens den Bus verpasst, riskiert zwei bis drei Tage Lohneinbußen. Die Männer sind nicht krankenversichert und haben keine Pässe. Was, so Schäfers, auch bedeute: „Wer aufmuckt, kommt nicht raus.“ Noch schlimmere Bedingungen, sagt er, habe er bisher nur in Malaysia gesehen. „Das ist modernes Sklaventum!“ In Katar hat die Ausbeutung der Arbeiter einen Namen: Kafala.
Arbeiter müssen den Pass abgeben
Das Kafala-System verlangt, dass ausländische Arbeitskräfte einen einheimischen Bürgen in Katar brauchen, ohne den sie weder ein- noch ausreisen dürfen. Diese Bürgen kassieren in aller Regel die Pässe der Arbeiter ein.
Dietmar Schäfers und seine Kollegen jedenfalls haben bei ihren Gesprächen in den Workers Camps in Al Khor keinen Arbeiter getroffen, der im Besitz seines Passes war. Und das, obwohl diese Vorgehensweise in Katar inzwischen verboten sein soll. Ein Vertreter des NHRC jedenfalls habe dies der Delegation in einem Gespräch mitgeteilt, in dem Schäfers und seine Kollegen das Kafala-System scharf kritisiert hätten.
Deutsche Regierung einbeziehen
„Die Situation der Arbeiter hängt vom Generalunternehmen ab“, sagt der Gelsenkirchener. Die würden allerdings Subunternehmen beschäftigen. Eine zentrale gewerkschaftliche Forderung sei daher: „Der Generalunternehmer muss sich um Unterkunft und Arbeitssicherheit kümmern.“
Und was passiert jetzt, nach der Rückkehr aus Katar? Dietmar Schäfers sagt, man spreche noch nicht vom Boykott der Fußball-WM 2022. „Das würde ja nichts an den Verhältnissen ändern.“ Die katarische Regierung soll, so eine weitere Forderung, die ILO-Konvention unterschreiben. Diese UN- Sonderorganisation hat den Auftrag, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern.
Deutsche multinationale Unternehmen würden jetzt angeschrieben. „Die sollen ihre Standards definieren zu Unterbringung, Arbeits- und Gesundheitsschutz.“ Außerdem, so Schäfers, werde man den DFB um ein Gespräch bitten. „Der ist eine Macht in der FIFA.“ Und wenn es in Berlin eine neue Regierung gibt, soll auch die zur Situation in Katar Stellung beziehen. Soziale Standards müssten bei einem solchen Weltevent eingehalten werden. Dietmar Schäfers: „Menschenrechte sind unteilbar!“