Essen. . Vor allem Rumänen und Bulgaren sind von Arbeitslosigkeit in Deutschland betroffen. Nach einem Urteil des Landessozialgerichts Essen stehen ihnen Hartz-IV-Leistungen zu. Bislang leben sie oft nur vom Kindergeld. Betroffen sind wohl bis zu 130.000 Menschen.

Der Lebensstandard arbeitsloser Einwanderer vor allem aus Ländern wie Rumänien oder Bulgarien liegt oft weit unter dem, was als Existenzminimum angesehen wird. Nun hat sich eine Familie aus Rumänien über mehrere Instanzen Hartz IV erstritten – für 130 000 arbeitslose EU-Migranten könnte dies ein richtungsweisendes Urteil sein.

Warum haben Einwanderer aus der EU keinen Anspruch auf Hartz IV, Asylbewerber aus Drittstaaten aber schon?

Hintergrund ist das sogenannte Freizügigkeitsgesetz. Das ermöglicht EU-Bürgern, sich dort niederzulassen, wo sie möchten. Allerdings müssen sie selbst für ihren Unterhalt aufkommen, bis sie einen Job haben. Das gilt auch für nachreisende Angehörige. Asylbewerbern stehen sofort Leistungen zu, da unterstellt wird, sie seien aufgrund der politischen Verhältnisse zur Ausreise gezwungen worden. Obendrein haben sie zunächst einmal gar keine Arbeitserlaubnis, sind daher hilfsbedürftig.

Warum soll nun für die rumänische Familie das EU-Recht nicht mehr gelten?

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Die Richter sind der Auffassung, dass die Familie 2010, als sie den Antrag auf Hartz IV stellte, lange genug gezielt nach einer Arbeit gesucht habe. Der Vater habe auch eine Arbeitserlaubnis gehabt. Ein Jahr lang habe es immer wieder Vermittlungsversuche vom Jobcenter gegeben, auch hätten die Antragsteller an Integrationskursen teilgenommen. Die Aussicht auf eine existenzsichernde Arbeit sei bei Antragstellung aber äußerst schlecht gewesen. Für den vorsitzenden Richter Martin Kühl gelten unter diesen Voraussetzungen die Bedingungen des Freizügigkeitsrechts, wonach Einwanderer sich selbst um den Unterhalt kümmern müssen, nicht mehr. „Es ist verfassungsrechtlich bedenklich, wenn wir die Leute in Deutschland lassen, ihnen aber nichts zu essen geben, wenn sie keine Arbeit finden“, erklärte er.

Kindergeld und Verkauf der Obdachlosenzeitung sicherten Unterhalt

Wovon hat die klagende rumänische Familie bislang gelebt?

Die Eltern und die zwei Kinder hielten sich bis November 2011 mit Kindergeld und dem Verkauf einer Obdachlosenzeitung über Wasser. Das Gericht bezifferte die monatlichen Geldmittel auf 600 Euro, wobei es den Verkauf der Zeitung als „Bettelei“ bewertete und nicht als Einkommen. Sie wohnten gemeinsam mit Schwestern und Eltern der Mutter und lebten von Spenden. Für den Zeitraum von Oktober 2010 bis November 2011 hat die Familie bei einer Eilentscheidung des Gerichts Hartz-IV-Leistungen zugesprochen bekommen. Diese Entscheidung hat der 19. Senat des Gerichts nun bestätigt.

Warum geht es nur um Leistungen für diesen Zeitraum?

Die Mutter der Familie hat seit knapp zwei Jahren einen Job als Putzfrau und verdient 200 Euro. Seitdem bekommt die ganze Familie nach dem Hartz-IV-Gesetz Aufstockungsleistungen. Der Leistungsausschluss des Freizügigkeitsgesetzes greift nicht mehr, sobald ein Familienmitglied eine Arbeit hat.

Nun wird es wohl zu mehr Klagen gegen die Jobcenter kommen

Müssen die Jobcenter nun sofort seit langem arbeitslosen Einwanderern Hartz IV gewähren?

Sie warten erst einmal ab, ob Revision eingelegt wird. Das beklagte Gelsenkirchener Jobcenter hat bereits gegenüber dieser Zeitung angekündigt, in die letzte Instanz zu gehen. Es vertritt die Auffassung, dass besagtes EU-Recht auch nach vergeblicher Arbeitssuche gilt. Die Bundesarbeitsagentur hält sich bedeckt. Und bei der Essener Agentur geht man davon aus, dass es ohne einen höchstrichterlichen Beschluss vor dem Bundessozialgericht keine Gesetzesänderung geben werde.

Was können die Betroffenen tun, denen nach dem Urteil Hartz IV zusteht?

Sie können klagen. Die Eilverfahren werden sich wohl – zumindest bis zum nächsten Urteil – auf das Landessozialgericht Essen berufen. Katja Hübner, Sprecherin der Essener Arbeitsagentur, vermutet, dass es nun zu mehr Anträgen und auch Klagen nach einer Ablehnung kommen wird. Sollte das Bundessozialgericht das Urteil bestätigen, wird der Steuerzahler künftig wohl für arbeitslose EU-Bürger aufkommen müssen. Und die Kommunen – denn sie sind schließlich für die Wohnkosten verantwortlich.