Gelsenkirchen. Zwei Menschen erzählen aus ihrem Leben, das von Sucht regiert war. Heute haben sie angedockt – in der Drogenberatung Kontaktcentrum. Für beide so etwas, wie eine zweite Heimat, in der sie sich angenommen fühlen.

Wer hier andockt, der kann sich ein Leben in Würde erwirtschaften. Würde, „die von der Sucht in den Boden gerammt“ wurde. Sagt Sabine (Name geändert). Ihr eigenes Selbstwertgefühl lag am Boden, als sie vor fast sechs Jahren endlich den für sie richtigen Weg eingeschlagen hat: den ins Kontaktcentrum. Die heute 50-Jährige hatte zu dem Zeitpunkt so ziemlich alles erlebt, was der Teufelskreis Sucht für seine Opfer bereit hält.

Angefangen hatte alles mit Bulimie. Da war Sabine elf. Später folgte die harte stoffliche Sucht. War sie dick, nahm sie Amphetamine, um die Fresslust zu unterdrücken. War sie in der Magerphase, schluckte sie Beruhigungs- und Schmerzmittel. Mit 23 Jahren bekam sie ihr erstes Kind, ein gesundes Mädchen. „Ich habe mein Problem in meinem Umfeld immer gut deckeln können. Keiner hat was gemerkt.“ Immer wieder hatte sie auch normale Phasen.

Blutige Tränen geweint

Immer wieder aber auch Erlebnisse, die sie umhauten. Der Tod ihres Mannes, der mit 29 Jahren verunglückte, war so ein Schicksalsschlag. „Da stand ich plötzlich mit meiner siebenjährigen Tochter alleine da.“ Sabine erzählt unaufgeregt, wie sie danach in eine schwere Heroinphase verfiel. Diesen Stoff konnte sie irgend wann verbannen, der Rest blieb. Fressattacken, Hungern – und die entsprechenden Mittel, die sie brauchte, um ruhig zu bleiben und nach außen so normal wie möglich zu wirken. Sabines Tochter war 13, als sie das erste Mal Heroin nahm. Die Mutter fiel aus allen Wolken, unternahm alles, um das Kind vor der Droge zu schützen. Vergeblich. „Meine eigene Sucht habe ich gar nicht so massiv wahr genommen. Aber das mit meiner Tochter, das hat mich umgehau’n. Da habe ich blutige Tränen geweint.“

Mit 42 wurde Sabine ein zweites Mal Mutter – und wollte alles besser machen. Zwischenzeitlich war sie wieder abgerutscht, vorüber gehend auch in die offene Szene geraten „und völlig abgewrackt“.

Wie ein kleines Zuhause 

Als ihre Jüngste noch klein war, ist sie ins Kontaktcentrum gegangen, begann auch, mit ihrem Suchtproblem „draußen“ offen umzugehen. Und musste erfahren, dass all jene, die Problem früher „übersehen“ und geschwiegen hatten, solange Sabine funktionierte, ihr jetzt die kalte Schulter zeigten. Sie zog aus, weil sie sich von den Nachbarn gemobbt fühlte, einstige Arbeitskollegen sprachen kein Wort mehr mit ihr.

Auch in der Schule ihrer jüngeren Tochter outete Sabine ihr Suchtproblem, damit das Gemunkel hinter dem Rücken der Kleinen aufhört. Ihre aktuelle Situation beschreibt die 50-Jährige so: „Ich bin seit dreieinhalb Jahren Substanzmüllfrei.“ Sie raucht nicht, sie trinkt nicht. Ihre Kleine sei stabil und eine gute Schülerin. Die ältere Tochter ist gerade schwanger, hat eine Therapie gemacht.

Iggy (40) hört dem Bericht Sabines aufmerksam zu. Der schmale Mann – „ich bin abhängig von allem gewesen“ – bekommt seit 2000 Methadon. Problem: Bis vor einigen Monaten war er noch nasser Alkoholiker. Bis er fast an Nierenversagen gestorben wäre. Inzwischen ist das Kontaktcentrum von Munevera Ackermann und ihrem Team sein zweites Zuhause. Wenn er nicht in seiner kleinen Wohnung ist. Raus will er nicht. „Draußen in der Szene sagen sie dann: Hey, ein Bier kannst du doch trinken...“ Nein, kann er nicht. Und er will auch nicht ständig als Junkie angequatscht werden. Iggy sagt: „Seitdem ich trocken bin, muss ich kämpfen.“ Er will durchhalten – wie Sabine.

Jugendliche nicht im Stich lassen

Die Lebensgeschichten von Sabine und Iggy sind Beispiele dafür, wie Suchtkrankheit Menschen kaputt macht. Kaputt, wie die Szene am Hauptbahnhof, die immer wieder in den Fokus rückt – weil die Substituierten vielen ein Dorn im Auge sind. Iggy bestätigt: „Du hast Zeit ohne Ende.“ Und die muss man irgendwo verbringen. Iggy nutzt sie anders, will nicht in Versuchung gebracht werden. Sabine schaut nachdenklich. „Alle sterben daran, egal ob alkoholabhängig, auf Designerdroge oder durch anderen Stoff.“ Die offene Szene sei „ein Mahnmal“, sagt sie. Aber die Leute hätten es hinter sich ... Die 50-Jährige sorgt sich um Kinder, „die diese Scheiß-Designerdrogen nehmen, die die Hirnrinde anfressen“. Ihr Appell: „Wir dürfen unsere Jugendlichen nicht im Stich lassen.“

Das sieht man in der Fachstelle für Suchtvorbeugung genauso. Das Projekt „Tough enough“ setzt auch genau da ein: Kinder suchtkranker Eltern stark machen.

Für Sabines ältere Tochter kommt das Präventionsprogramm zu spät. Die 50-Jährige gibt die Hoffnung indes nicht auf, „dass meine Tochter den Faden, den sie hier aufnimmt, fest hält“. Für ein selbstbestimmtes Leben und kein von Drogen regiertes.