Gelsenkirchen. Barrierefreiheit für alle Menschen, davon ist die Gesellschaft noch weit entfernt. Was eine drei Zentimeter hohe Kante für Rollstuhlfahrer bedeutet, zeigt Helga Liebich auf dem Erler Marktplatz.

Was die Menschen heute sofort richtig machen, brauchen sie später nicht nachzubessern. Wohl wahr, was Berend Steensma und Manfred Liebich da auf den Punkt bringen.

Die beiden Männer sind verwundert darüber, was trotz angestrebter Inklusion, trotz Verpflichtung zur absoluten Barrierefreiheit, trotz Bitten und Hinweisen aus den Reihen der unterschiedlichen Behinderten-Gruppen immer noch schief läuft. Ein Paradebeispiel dafür ist aus ihrer Sicht der neue Erler Marktplatz.

Erst vor einem Jahr aus Mitteln des Konjunkturpakets II fertig gestellt, sei daraus ein Stolperplatz, eine Insel mit diversen Fallen geworden. Für Blinde wie Berend Steensma, für Menschen, die wie Liebich-Gattin Helga an den Rollstuhl gefesselt sind.

Erinnerung an ursprüngliche Idee der Stadt

Der 70-jährige Steensma braucht, wie er sagt, verlässliche Bodenindikatoren, um sich auf dem Platz und entlang der Straßen und Überwege mit seinem Taststock orientieren zu können; die 57-Jährige Helga Liebich kommt ohne fremde Hilfe mit den drei Zentimeter hohen Kanten, die den Platz ohne Unterbrechung säumen, nicht klar.

Ehemann Manfred, der den Bereich Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) in Gelsenkirchen leitet, erinnert vor Ort noch einmal an die ursprüngliche Idee der Stadt, hier einen niveaugleichen Marktplatz herzustellen. „Dieses Objekt ist aus Steuermitteln finanziert und muss nachhaltig sein“, betont er.

Kante könnte abgeschrägt werden

Dabei wäre ein Kompromiss gar nicht mal so schwer zu realisieren. Dort, wo die Bodenleitsysteme stark Sehbehinderten und Blinden signalisieren: „Hier geht es über die Straße“, könnte die Kante abgeschrägt werden. Meinen Liebich und Steensma. Dann würden Rollstühle die Straße queren können, ohne Gefahr zu laufen, dass sich ein Rad verkeilt oder irgendwann schlicht „platt“ ist. „Straßen NRW hat solche abgeschrägten Bordsteine“, berichtet der BSK-Sprecher.

Liebich verweist auf das Behindertengleichstellungsgesetz, in dem der Begriff der Barrierefreiheit wie folgt definiert ist: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen (...), wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“.

Ein durchgängiges Blindenleitsystem fehlt

Nun, Berend Steensma macht vor, wie er sich mit dem Stock an der 3-cm-Kante entlang tastet – und fast vor ein unerwartetes Hindernis prallt: ein falsch geparktes Auto. Er demonstriert, wie er sich nah einer Hauswand mit Stock orientiert – bis er fast einen Poller erwischt.

Ein durchgängiges Blindenleitsystem fehlt. In einem Brief an Gelsenkirchens Senioren- und Behindertenbeauftragten Dr. Wilfried Reckert schrieb Steensma im August: „Ohne einen Auffangstreifen tappt der Blinde im wahren Sinne des Wortes im Dunklen und ist ohne diese Hilfe orientierungslos.“