Gelsenkirchen. Ehemalige Inhaftierte stellten im Kunstmuseum ihr Buch „Ich muss zurück ins Rattenloch“ vor. Sie erzählten von Vergewaltigungen und seelischen Grausamkeiten. Das Publikum konnte kaum glauben, dass das alles in Deutschland passiert ist.
„Ich bin eine von den Ehemaligen“, stellt sich die nette junge Frau auf dem Podium vor. Sie trägt einen türkisfarbenen Pullover, dazu Jeans. Ihr hübsches Gesicht ist mit dezentem Make-Up betont. Martas Augen blicken freundlich und offen ins Publikum. Noch. Dann greift sie zu einem Buch. Sie liest. „Auf dem Weg meines Lebens so viel Böses, so viel Schmerz, so viel Leiden – für was?“
Sie erzählen von Vergewaltigungen und von seelischer Grausamkeit, die ehemaligen Inhaftierten, die im Kunstmuseum das Buch „Ich muss zurück ins Rattenloch“ vorstellen. Ihre persönlichen Geschichten machen die zahlreichen Zuhörer betroffen. Es fällt ihnen schwer zu glauben, dass alles, was sie gerade hören, in Deutschland geschehen ist.
Persönliche Geschichten, die berühren
„Mama, mach die Tür auf! Mama, nicht Selbstmord!“ Marta ringt um Fassung, als sie die Passage ihres Textes liest, in dem sie vom Freitod der Mutter berichtet, nachdem diese immer wieder vom Vater verprügelt wurde. Die Tränen der jungen Frau berühren die Menschen. Marta erzählt von der Vergewaltigung im Alter von zehn Jahren durch den Pfarrer, von den ersten Kontakten mit den Drogen, vom Knastalltag.
Den schildert auch Karina in einer Art Tagebuch. „Ich lege mich zum 350. Mal in ein Bett, das nicht mir gehört.“ Die sympathisch wirkende Frau, die die Geschichte ihres Lebens im Gesicht trägt, schildert die emotionale Kälte hinter Gittern. „Vor zwanzig Monaten hat sich eine Würgeschlange um meine Gefühle gelegt und zieht seitdem zu. Im Knast kannst du es dir nicht leisten, Gefühle zu zeigen“, schildert Karina ihre Erfahrungen. „So ist es“, flüstert eine junge Frau ganz hinten im Publikum bestätigend.
Weniger Platz als ein Schäferhund im Tierheim
Gefängnis, das ist mehr als nur eingesperrt sein. Katharina berichtet von ihrer 7,9 Quadratmeter großen Zweimannzelle. „Wenn man bedenkt, dass einem Schäferhund im Tierheim 12 Quadratmeter zustehen“, will sie Denkanstöße liefern. Schockierender aber ist, was jetzt kommt.
Neben den drei „Ehemaligen“ sitzt der Schauspieler Ralf Richter auf dem Podium. Auf der Leinwand ist er gern der Bösewicht. Hier setzt er sich ein für inhaftierte Frauen, gibt der transsexuellen Michelle seine Stimme. Lange wurde sie nicht inhaftiert. „Weil der Richter sich nie entscheiden konnte, in welchen Knast ich gehöre – oben Frau und unten Mann.“ Eines Nachts aber ist es soweit. „Ich wurde von einer Beamtin untersucht. Sie müsse im Auftrag des Richters mein Brustwachstum begutachten. Man kam zu der Überzeugung, dass A-Körbchen für den Männerknast reichten.“ Dort begann sofort der Spießroutenlauf. „Dass ich im Männerbau eine Zielscheibe war, war mir bewusst.“ Bald eskalierte die Situation. „Duschtag. Ich hatte eine Einzeldusche unter besonderer Bewachung. Dass die aus drei Gefangenen bestand, hätte ich nicht gedacht. Diese Sache war geplant, das war klar. Ich schaltete sämtliche Gefühle aus und ließ alles geschehen. Ich wusste, meinen Stolz können sie zerbrechen, mein Herz nicht.“
Wissbegierige Gäste
So sprachlos die Gäste sind, so wissbegierig sind sie auch. Schnell kommt nach der Lesung eine Diskussion zustande. Ob das Schreiben wirklich helfe, will eine Dame wissen. Das bestätigt Ralf Richter, der einst selbst neun Monate in München in Untersuchungshaft saß. „Dreißig Prozent der Menschen im Knast schreiben. Mehr oder weniger gelenk. Ist ja besser als Langeweile.“ Dann traut sich eine ältere Frau. Sie spricht die Vergewaltigungen an. Sie will wissen, warum man denn nichts tun könne, warum die Frauen sich nicht beschweren. Professor Helmut Koch, Mitherausgeber des Buches, kennt die Antwort. „Es ist schwierig für einen Gefangenen im Knast glaubwürdig zu wirken.“