Gelsenkirchen. Wiedersehen mit Gelsenkirchens Stadtfilmen der Jahre 1964 und 74: Aufbruch, Mega-Partys, Krisenstimmung und Zukunftsangst - zu sehen im Kino.
Es war das Jahr, in dem die Berliner Brücke gebaut und eingeweiht wurde, die Bauarbeiter Schnaps vom Oberbürgermeister als Wegezoll erpressten und die „modernen Verkehrsadern“ Grothusstraße und Ostring in Gelsenkirchen gefeiert wurden. Eine neue Schule nach der anderen weihten die Stadtoberen ein, die neuen Mehrfamilienhäuser und Wohntürme wurden gepriesen als Rettung aus der Wohnungsnot. Die offiziellen Stadtfilme Gelsenkirchens listen die Highlights der Jahre auf. Aber sie zeigen noch viel mehr. Am Sonntag, 9. Juni, gibt es in der Schauburg in Buer die Gelegenheit, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.
Zahlreiche Ausschnitte von Spielen der WM 1974 in Gelsenkirchen
Ein Wiedersehen mit den offiziellen Stadtfilmen der Presse- und Marketingabteilung Gelsenkirchen aus den Jahren 1964 und dem WM-Jahr 1974 gibt es an dem Tag ab 13 Uhr in der Schauburg an der Horster Straße. Und es lohnt sich. Die beiden jeweils 35-minütigen Dokumentationen zeigen nicht nur den Wandel des Stadtbildes, sondern auch der Stimmung in der Gesellschaft. Am Ende wagen die Macher gar nachdenkliche Selbstkritik am naiven Fortschrittsglauben der Aufbruchszeit.
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Das Institut für Stadtgeschichte hat die beiden Jahre aus dem Arsenal der zwischen 1950 und 1996 alljährlich erstellten Stadtfilme ausgewählt, nicht zuletzt auch, um sich vor der EM 2024 mit Bildern der WM vor 50 Jahren einstimmen zu können. Dabei ist es ein spezieller Blick, den Stadtfilmer Hans Rotterdam auf jene Zeit wirft. Vor dem Start der Filme führt der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, Daniel Schmidt, das Publikum in die Fakten rund um das Zeitgeschehen jener Jahre ein.
„Kinder, die auf mütterliche Obhut tagsüber verzichten müssen“
1964 war das Jahr der Neubauten, im Hintergrund sind meist rauchende Schlote zu sehen und Marschmusik von Bergmannskapellen zu hören. Es sind Bilder einer aufstrebenden Stadt, die im Film im Vordergrund stehen: Die „Sonderschule“ in Bulmke, das Richtfest am Hallenbad Horst, Grundsteinlegung für die „Metallberufsschule“ (das heutige Berufskolleg Technik und Gestaltung, dessen Ende mit dem Bildungscampus naht) und die Einweihung des Schweizer Dorfes für Kinder „die auf die mütterliche Obhut tagsüber verzichten müssen“, wie der Chronist mitleidig erklärt.
Berger Schlossfest mit Landsknechts-Kostümen, der Oberbürgermeister im Hochleistung-Segelflieger, vorweihnachtlich geschmückte Innenstädte und ein prunkvoller Bühnen- und Presseball im Musiktheater runden das Bild der aufblühenden Stadt ab.
Doch auch wenn die Fußball-Weltmeisterschaft mit fünf Spielen in Gelsenkirchen im 1974er-Film mit ausführlichen Spielausschnitten kräftig gefeiert wird: Auch Skepsis mischt sich hier in den positiven Grundton, auf den ein Werbefilm, der er ja schließlich war, nicht verzichten kann. Der Begeisterung über die hohen Umsätze des siebtgrößten Binnenhafens der Republik, dem Hafen Bismarck, dem Neubau des Marienhospitals Gelsenkirchen, der Einweihung der Gesamtschule Berger Feld, mischen sich Sorgen.
6,3 Prozent der Gelsenkirchener müssen „stempeln“ gehen
Die Februar-Streiks im öffentlichen Dienst fragen nach gerechter Entlohnung, 6,3 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung müssen „stempeln“ gehen, sind also arbeitslos, das Land NRW hilft mit einer Finanzspritze zur Ankurbelung der örtlichen Wirtschaft. Am Ende wird der Film gar philosophisch-selbstkritisch.
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Alexander Mitscherlichs „Thesen zur Stadt der Zukunft“ werden aufgegriffen. Bundespräsident Gustav Heinemann warnt in Gelsenkirchen beim Bundes-Architektentag vor dem Moloch eines Europa-Nordwest, einer Großstadt, die sich von Rotterdam bis zum Südrand des Ruhrgebiets zu erstrecken droht. Satellitenstädte, in die die Menschen nicht einziehen mögen, verstopfte Straßen: Man habe wohl vieles versäumt beim Wiederaufbau, gibt er zu denken.
Alain Delon auf der Gelsenkirchener Trabrennbahn
Das internationale Fußballfest in der Stadt mit den fünf Spielen im neuen Parkstadion, den „Schlachtenbummlern“ aus aller Welt, dem legendären 9:0-Spiel von Jugoslawien und Zaire, sowie Frankreichs Schauspiel-Ikone Alain Delon als Gast beim Elite-Trabrennen in Nienhausen fangen die kritischen Töne ab. Am Ende klingt es ein bisschen nach der dem heute gern zitierten Credo: Nicht die Steine, sondern die Menschen machen die Stadt und die Gesellschaft aus.
Der Eintritt zu der historischen Filmmatinee in der Schauburg kostet 5 Euro. Karten gibt es im Vorverkauf bereits online auf der Homepage des Kinos.