Gelsenkirchen. Gelsenkirchener Traditionskino „Schauburg“ feierte 95. Geburtstag mit einem Beisammensein, das über 400 Besucher beseelt lächeln ließ.
Auch am Morgen danach rauschte das Adrenalin gefühlt noch literweise durch die Adern von Ralf Kolecki. „Ich bin völlig überwältigt und habe die halbe Nacht kein Auge zubekommen“, erzählt der Leiter der „Schauburg“. Die Feierlichkeiten anlässlich des 95. Geburtstages des Traditionskinos in Buer am Mittwochabend hatten aber nicht nur ihn emotional zutiefst bewegt. Nein, jeder der über 400 Gäste ging nachher glücklich und beseelt lächelnd nach Hause. Denn sie alle hatten hautnah miterlebt, wie wunderbar es sich anfühlen kann, wenn ein Stück Stadtgeschichte plötzlich lebendig und dadurch für Herz und Hirn richtig greifbar wird.
Es war der 31. Januar 1929, als die Pforten der „Schauburg“ erstmals öffneten. Auf den Tag genau 95 Jahre später wurde dieses besonderen Tages gedacht. Und das im Rahmen eines abendlichen Beisammenseins, das nicht nur aus cineastischer Sicht keine Wünsche offen ließ. Denn das Publikum erlebte einen wohltuenden, die Sinne belebenden Mix aus Filmgenuss, Talk-Elementen und dem gemeinsamen Schwelgen in Erinnerungen.
Als erster trat um kurz nach 20 Uhr Olaf Strecker auf die Bühne. Er ist nicht nur Mitbegründer des „Geheimnisvollen Filmclubs Buio Omega“, der jetzt auch schon seit einem Vierteljahrhundert sein Zuhause in der „Schauburg“ hat. Strecker ist auch selbst ein langjähriger Stammgast des Hauses am Rande der Horster Straße. Hier habe er seinen allerersten Film im Kino gesehen, erzählt er zu Beginn. Das war im Jahr 1977 der Disney-Zeichentrickfilm „Bernard und Bianca – Die Mäusepolizei“. Dieses gemeinsame Erlebnis mit Mutter und Bruder sei so eindringlich gewesen, dass sich Strecker bis heute genau erinnern kann, wo er damals gesessen hat.
Die „Schauburg“ wurde nach Plänen des Architekten Carl Wagner erbaut
Und so referierte Strecker dem gebannt lauschenden Publikum zunächst einmal weitere Basisfakten zu diesem markanten Gebäude. So hätten allein die Planungen des Baus zehn Jahre Zeit in Anspruch genommen. 1927 erfolgte dann der Baubeginn unter der Leitung des Architekten Carl Wagner. „Bauherr war ein gewisser Herr Ronkel. Und erster Betreiber nach der Eröffnung Ende Januar 1929 war dann die Münchner Lichtspielkunst AG Emelka“, erzählte Strecker. Und die zeigte am Premierenabend den Stummfilm „Marquis d‘Eon, der Spion der Pompadour“ mit der österreichischen Schauspielerin Liane Haid in der Titelrolle.
Was viele nicht wissen: Die „Schauburg“ war zu Beginn kein reines Kino, sondern immer ein Mehrzweckraum. So gab es dort auch zusätzlich stets zahlreiche Theater-, Operetten- sowie Kleinkunst- und Varietéaufführungen. „Ein 18-köpfiges Hausorchester sorgte zu allen Gelegenheiten für die passende Musik. Und zu Beginn passten hier auch noch 1400 Besucher hinein statt der heutigen 420“, nannte Strecker weitere verblüffende Fakten. Denn früher seien die Stuhlreihen nicht nur deutlich enger bestückt gewesen, sondern das heutige Obergeschoss, in dem sich das „Lux“ befindet, bildete damals auch noch einen Teil des großen Saals. Ein Foto, aufgenommen in den 50er Jahren, das auf die Großleinwand projiziert wurde, zeigt diese alte Anordnung. Es erntete kollektives Staunen.
13-minütiger Vorfilm zeigt die Bauarbeiten an der „Schauburg“
Das galt auch für den rund 13-minütigen Vorfilm des Abends. Er stammt aus dem Jahr 1927 und zeigt die Arbeiten am Rohbau der „Schauburg“. Ausführende Firma war die Baugesellschaft Anton Gladen. Das zeigt dieses Dokument der Zeitgeschichte ebenso wie die waghalsige Maloche, auf die sich die Bauarbeiter da in teils schwindelerregender Höhe einließen. „Das Thema Arbeitsschutz war damals offensichtlich noch völlig unbekannt“, sagte Ralf Kolecki, der gemeinsam mit Strecker den Stummfilm live und unterhaltsam kommentierte.
Emotionaler Höhepunkt war dann aber zweifelsohne der Auftritt von Wilma Weißner. Die 88-Jährige, die in Buer aufgewachsen ist und nun bereits seit längerem in Mülheim lebt, wohnte während des Zweiten Weltkriegs für drei Jahre mit Mutter und kleinem Bruder in der „Schauburg“. Und dank ihrer wunderbaren Schilderungen nahm die alte Dame ihre Zuhörerschaft mit auf eine fantastische Reise in die Vergangenheit dieses Filmtheaters. Etwa jene Phase, als US-amerikanische Soldaten als Besatzer das Kino abends bis unters Dach füllten „Was haben die geraucht!“ staunte Weißner. Sie und ihr Bruder hätten nach Vorführungsende die Kippen vom Boden aufgelesen und den verbliebenen Tabak heraus gepuhlt. Die Rauchware tauschte die Mutter dann gegen Zucker, Salz und andere wichtige Lebensmittel. Hoch spannend, diese Schilderungen.
Als Überraschungs-Hauptfilm gab es „Die Reifeprüfung“ mit Dustin Hoffman
Dann folgte der Hauptfilm des Abends. Den hatte Kolecki selbst ausgesucht und im Vorfeld niemand eingeweiht. Zu sehen gab es als Überraschung „Die Reifeprüfung“ - jener Film aus dem Jahr 1967, der Dustin Hoffman den Karrieredurchbruch und dazu gleich auch noch seine erste Oscar-Nominierung bescherte. Viele Besucher kannten den Film vom Titel, hatten ihn aber nie zuvor komplett, geschweige denn im Kino gesehen. Auch diese Wahl: ein Volltreffer!
Und dass dieser Abend allen gefallen hat, war auch daran abzulesen, dass sich jede und jeder nach Filmende noch persönlich bei Kolecki bedanken und verabschieden wollte. Der stellte am Donnerstagmorgen erschöpft fest: „Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viele Menschen an einem einzigen Tag umarmt und gedrückt wie gestern.“