Gelsenkirchen. Mehr Gewalt, mehr junge Tatverdächtige, mehr Ausländerkriminalität, mehr Diebstähle: Gelsenkirchener Polizeispitze erläutert Hintergründe.
2023 ist die Zahl der Straftaten in NRW weiter gestiegen. Nach jahrelang sinkenden Fallzahlen werden inzwischen sogar mehr Straftaten begangen als zum Zeitpunkt, als NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) das Amt von seinem Vorgänger Ralf Jäger (SPD) 2017 übernahm: 1.373.390 Straftaten damals, 1.412.807 Fälle zuletzt. Abzulesen ist das auch an den brisanten Gelsenkirchener Zahlen, die gerade veröffentlicht wurden. Botschaft: mehr Gewalt, mehr minderjährige und jugendliche Tatverdächtige, mehr Ausländerkriminalität, mehr Diebstähle.
Gelsenkirchener Polizeipräsident: Schwere der Gewalttaten lösen große Besorgnis aus
Gerade in puncto Straßenkriminalität und Gewaltdelikte schrillen die Alarmglocken. „Es ist nicht allein die Anzahl der Taten, sondern die Qualität, also die Schwere der Straftaten, die besorgniserregend ist“, sagt Polizeipräsident Timm Frommeyer. Beides beeinträchtige das „subjektive Sicherheitsgefühl“ der Menschen in dieser Stadt maßgeblich. Angst und Unsicherheit sind die Folgen. Zumal eine Gesamtaufklärungsquote von rund 52 Prozent auch bedeutet, dass beinahe jedes zweite bekanntgewordene Verbrechen nicht enträtselt wird.
„Mehr Straftaten, mehr Akten, mehr Arbeit“, sagt Frommeyer. Ab einem gewissen Punkt ließen sich Workflows schlichtweg nicht weiter optimieren. Die Gelsenkirchener Behörde - rund 860 Kräfte stark - sei vergleichsweise klein gegenüber Essen oder Dortmund. Sie habe aber mit den gleichen Problemen zu kämpfen. „Wir brauchen mehr Köpfe“ - sprich: mehr Personal - lautet die Schlussfolgerung des Polizei-Chefs. Zuletzt gab es für seine Behörde aber nur eine Mini-Stellenerhöhung.
Vergleicht man die Landeszahlen mit der Gelsenkirchener Statistik, so fällt auf, dass die Emscherstadt einen Anstieg von Straftaten verzeichnet, der rund um den Faktor zwei höher liegt als in NRW - oder durchaus noch höher. Das ist bei Gewaltdelikten/Straßenkriminalität, bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und auch bei Diebstählen der Fall.
Zur Einordnung: Straßenkriminalität (Straftaten im öffentlichen Raum) zählen unter anderem Raub oder räuberischer Diebstahl, schwere und gefährliche Körperverletzung, aber auch Vandalismus. Straßenkriminalität und Gewaltdelikte beeinflussen sich in der Statistik wechselseitig, steigt der eine Bereich, dann sogleich auch der andere.
Kriminalrat Gerrit Böckmann und Tim Frommeyer haben diese Zahlen bei der Präsentation eingeordnet: Flucht, Gewalterfahrung und Armut fallen dabei ins Gewicht. Raubdelikte auf öffener Straße haben um 103 Prozent (195 Fälle) zugenommen, gefährliche und schwere Körperverletzung um 50 Prozent (392 Fälle). Der Anteil von Kindern (bis 14 Jahre), Jugendlichen (14-18 Jahre) und Heranwachsenden (18-21 Jahre) bei den ausländischen Tatverdächtigen liegt dabei bei 50, 45 respektive 35 Prozent.
Junge Männer, die als Flüchtlinge in Deutschland sind, neigen nach Erkenntnissen der Behörde stärker dazu, straffällig zu werden. Hinzu kommt nach Analyse des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und Forschenden als Einflussgröße ein Aufwachsen im Patriarchat, bei ihrer Erziehung hat oft Gewalt eine Rolle gespielt, weil sie sich ihren Platz in der Rangordnung erkämpfen mussten. Kosten für die Schleusung und ihr Bestreben nach Unterstützung der Hinterbliebenen stehen im Gegensatz zu dem Geld, das sie für ihren eigenen Unterhalt bekommen. Damit steigt die Risikobereitschaft, sich auf kriminellen Wegen Geld zu beschaffen.
Ähnlich sieht es mit tatverdächtigen Menschen aus ärmeren EU- oder anderen Ländern aus. Viele von ihnen seien aufgewachsen in prekären Verhältnissen. „Daher auch der große Anteil Nichtdeutscher bei Eigentumsdelikten“, erklärt Böckmann.
Der krasse Ausschlag nach oben hat aber auch zu tun mit einer Aufsehen erregenden Serie von Straftaten junger Menschen, bei der Jugendliche und selbst Kinder zu Tätern wurden. Gefährderansprachen, Durchsuchungen und Haft waren die Folgen. Oftmals handelte es sich um Intensivtäter mit reihenweise Taten auf ihrem Kerbholz.
501 Sexualstraftaten in Gelsenkirchen
Insgesamt 501 Straftaten (+5,3 Prozent) gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind in die Gelsenkirchener Statistik eingegangen. Der Anteil tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher „liegt dabei bei 40 Prozent“. Als Grund dafür nennen Böckmann und Frommeyer die „Naivität“ vieler junger Menschen, die per Handy über die sozialen Netzwerke verbotene Inhalte gleich zigfach teilten. Auch dadurch sei die hohe Fallzahl zu erklären.
„Es handelt sich bei der Gesamtzahl der Fälle also weniger um direkte sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigungen“, so Böckmann. Sondern vielmehr um Bilder oder Videos, die „Kinderpornografie oder Missbrauch von Tieren“ enthielten. Die Aufklärungsquote hier liegt bei 91 Prozent - Sender und Empfänger ließen sich also meist schnell identifizieren. Das macht es nicht besser, weil der Besitz und die Verbreitung solcher Dinge strafbar sind. Und die Entwicklung eines jungen Menschen negativ beeinflussen können.
Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch stieg von 52 auf 89
Einen Sprung um rund 70 Prozent nach oben gemacht haben die Fälle von Kindesmissbrauch. Nach 52 Fällen in 2022 stieg ihre Zahl 2023 auf 89. Demgegenüber steht eine Aufklärungsquote von 90 Prozent. Vergewaltigungen, sexuelle Nötigung/Übergriffe summierten sich 2023 auf 55 Fälle (+3,8 Prozent).
Die Kriminalitätsstatistiken listen allein die bekanntgewordenen Straftaten auf. Wie groß das Dunkelfeld ist, bleibt offen. Und: Nach Lesart der Behörden gilt eine Straftat bereits als aufgeklärt, wenn ein oder mehrere Tatverdächtige ermittelt wurden. Heißt: Die Zahlen der tatsächlich rechtskräftig verurteilten Straftäter ergeben in Teilen ein anderes Bild als die polizeilichen Erhebungen. Beispielsweise hatte das Statistische Landesamt im März mitgeteilt, dass die Zahl der Verurteilungen von jugendlichen und heranwachsenden Straftätern in NRW im Zehnjahresvergleich um 55 Prozent zurückgegangen ist.