Gelsenkirchen. Es dauert nicht mehr lange, bis Massen an Babyboomern in den Ruhestand wechseln. So bereitet sich Gelsenkirchen jetzt mit einem „Masterplan“ vor.

Die bevorstehende Massenverrentung und schrittweise einkehrende Pflegebedürftigkeit der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge (1955 bis 1969) ist eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen Deutschlands. Allein in Gelsenkirchen zeigt sich: Die Anzahl der über 80-Jährigen in der Stadt wird sich voraussichtlich im Zeitraum bis 2040 von knapp 16.821 Personen auf 19.770 Personen erhöhen. Mit dem jetzt von der Politik beschlossenen Masterplan „Gut älter werden 2035“ will sich die Stadt dieser beispiellosen Bevölkerungsentwicklung stellen.

Die Angebote für Rentner in der Stadt müssen damit auf eine Generation angepasst werden, die vielfältige Bedürfnisse hat, die geprägt worden ist „durch die Bildungsexpansion, durch die Frauenbewegung, die viel Konkurrenz hatte und sich überall behaupten musste“, wie es Julius Leberl, der Gelsenkirchener Seniorenbeauftragte, mit Blick auf die Babyboomer formuliert. Rechnung getragen werden soll all diesen Faktoren mit dem Masterplan, dessen Ziele nach der jetzt erfolgten Zustimmung durch den Stadtrat konkret angegangen werden können.

Neue Stelle in Gelsenkirchen soll das Thema Wohnen von einer sozialen Sichtweise angehen

„Es gibt dabei zwei Schwerpunkte“, sagt Sozialdezernentin Andrea Henze. „Der eine ist der Bereich Teilhabe, der andere betrifft das altersgerechte Wohnen.“ Schließlich werde mit dem stetigen Zuwachs vieler Ruheständler in der Stadt auch die Nachfrage nach altersgerechtem Wohnen rapide anwachsen. Eine Stadt hat darauf zwar nur einen bedingten Einfluss; die gegenwärtige Krise auf dem Baumarkt ist wohl eher in Berlin zu lösen. Aber mit ihren Mitteln will die Stadt eingreifen. Und das heißt für Henze: „Wir dürfen das Wohnen nicht nur in Steinen denken, sondern müssen darüber auch im sozialen Bereich nachdenken.“

Im Klartext sollen also Baureferat und Sozialreferat mehr zusammenarbeiten und ihre Expertise „verschmelzen“. Die Stadt will dafür im Oktober eine gesonderte Stelle einrichten, die von einem anderen Blickwinkel – beispielsweise von den Bedürfnissen der Älteren aus gesehen – auf Bauprojekte in Gelsenkirchen schauen soll.

Julius Leberl ist der Seniorenbeauftragte der Stadt Gelsenkirchen. Er sagt: „Wir müssen die rein bauliche Sichtweise flankieren mit sozialen Fragestellungen.“
Julius Leberl ist der Seniorenbeauftragte der Stadt Gelsenkirchen. Er sagt: „Wir müssen die rein bauliche Sichtweise flankieren mit sozialen Fragestellungen.“ © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Ein weiterer Schritt, der nun schnell nach Zustimmung des Masterplans vorbereitet werden soll: Gelsenkirchen soll in das „Netzwerk altersfreundlicher Städte“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen werden. Durch die Zugehörigkeit zu diesem Städtenetzwerk soll die Stadt auf die Erfahrung von Experten auf ganzer Welt zugreifen können, gelungene Beispiele von anderen Städten aufgreifen können und gegenüber anderen Kommunen auch selbst als Vorbild agieren können. Denn dies sei Gelsenkirchen beispielsweise mit Blick auf das 2009 geschaffene „Generationennetzwerk“.

Bedürfnisse für Ältere: Mit diesem Verein kann Gelsenkirchen ein Vorbild sein

In diesem Verein haben sich Stadtverwaltung, Wohlfahrt, Unternehmen der Seniorenwirtschaft und der Wohn­ungs­wirtschaft, Krankenhäuser sowie Kirchengemeinden zusammen­geschlossen, um gemeinsam zum Älterwerden zu beraten – von Freizeit- und Kulturangeboten bis zu Pflege und Wohnen. Hier werden Rikscha-Fahrten organisiert, Hausbesuche gemacht oder Begleitungen von dementiell veränderten Menschen ins Musiktheater auf die Beine gestellt. Die Palette ist also breitgefächert. Ein Netzwerk in dieser Form sei in Städten tatsächlich selten, wie Henze anmerkt, die vor ihrer Zeit in Gelsenkirchen schon in diversen anderen Kommunen tätig war. Ein Problem nur: Es sei weiterhin wenig bekannt.

Mit der Umsetzung des Masterplans soll der Verein als zentrale Adresse noch an Bekanntheit gewinnen – und insbesondere für den zweiten großen Schwerpunkt des Masterplans entscheidend wirken: die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auch bis ins hohe Alter hinaus.

Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze über die Babyboomer: „Es gibt in der Generation das Gefühl, ständig eine Verpflichtung gehabt zu haben – und den Wunsch, sich nach dem Arbeitsleben nicht mehr fremdbestimmen zu lassen.“
Gelsenkirchens Sozialdezernentin Andrea Henze über die Babyboomer: „Es gibt in der Generation das Gefühl, ständig eine Verpflichtung gehabt zu haben – und den Wunsch, sich nach dem Arbeitsleben nicht mehr fremdbestimmen zu lassen.“ © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Für den Senioren- und Behindertenbeauftragten Julis Lebert entscheidend ist dabei, „die Leute zu befähigen, die Probleme selbst in die Hand zu nehmen.“ Dabei spielt das Ehrenamt natürlich eine große Rolle, Ämter etwa wie die „Technikbotschafter“, ältere Menschen in Gelsenkirchen die anderen Senioren Hilfestellung in technischen Fragen geben. Oder die „Nachbarschaftsstifter“, die ein offenes Ohr für die Probleme im Viertel haben und sich dafür engagieren sollen, dass das Wohnumfeld seniorengerecht gestaltet wird.

„Leute, die sich in solchen Engagementformaten einbringen sind häufig zehn, 15, sogar 20 Jahre dabei. Das wird in dieser Ausprägung jedoch nicht mehr funktionieren“, sagt Leberl hinsichtlich der Babyboomer-Jahrgänge. „Es gibt in der Generation das Gefühl, ständig eine Verpflichtung gehabt zu haben – und den Wunsch, sich nach dem Arbeitsleben nicht mehr fremdbestimmen zu lassen“, ergänzt Stadträtin Henze. In der Konsequenz müsse man das Ehrenamt mehr „anlassbezogen“ gestalten. „Das sind vielleicht eher mal Begleitungen zu Zoobesuchen anstatt langjährige Verpflichtungen“, gibt Leberl ein Beispiel.

Eine weitere Herausforderung: Die Babyboomer sind eine äußerst vielfältige Gruppe – nicht nur voller Gewinner und scheidender Führungskräfte, auch voller löchriger Erwerbsbiografien. „Nicht alle Babyboomer sind einer Vollzeit-Tätigkeit nachgegangen, die Erwerbsquote von Frauen in dieser Generation ist im Westen beispielsweise geringer als im Osten“, sagt Leberl. Das gelte insbesondere für Städte wie Gelsenkirchen.

Beteiligung im Mittelpunkt: Ältere Gelsenkirchener sollen ihre Meinung sagen

Und da ist noch etwas: Es gebe in dieser Generation oft ein ganz anderes Verständnis vom Älterwerden als früher. Menschen, die auf die letzten Jahre ihres Erwerbslebens zusteuern, können sich in den überall im Ruhrgebiet beliebten ZWAR-Gruppen („Zwischen Arbeit und Ruhestand“) vernetzen, um Gleichgesinnte im gleichen Alter zu finden, Bekanntschaften zu knüpfen – bevor sie nach Ende der Karriere plötzlich in die Einsamkeit fallen. „Nur wenn ich jetzt einen 55-Jährigen zu einer ZWAR-Gruppe einlade, dann bekomme ich auch mal Antworten wie: ,Spinnst du, ich bin doch kein Senior?’“ Älter werden und sich alt fühlen – das sei gerade bei Babyboomern ein Paar, das oft nicht zusammenpasse.

All diese besonderen Merkmale der künftigen Rentnergeneration soll ihnen aber nicht einfach angedichtet und dann in entsprechende Angebote übertragen werden. Ein Grundsatz des Masterplans ist die Beteiligung. Schon aufgebaut wurde er auf einer Umfrage, an der sich 8000 Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener beteiligt haben. So sollen auch künftige Angebote entstehen, die auf Basis des Masterplans vorbereitet werden. Lesen Sie hierzu: 50- bis 54-Jährige sorgen sich sehr vor Einsamkeit im Alter