Gelsenkirchen-Erle. Gelsenkirchens Gesamtschule Erle war von Anfang an extrem beliebt. Trotzdem fällt die Bilanz des Schulleiters nach neun Jahren sehr gemischt aus.
Schon bei der allerersten Anmelderunde im Gründungsjahr der neuen Schule im Jahr 2014 musste sie Bewerber mangels Platz ablehnen. Jetzt hat die Gesamtschule Erle die ersten damals Auserwählten zum Abitur führen können. 58 Abiturienten zählt dieser erste Jahrgang, die allermeisten sind Erler Eigengewächse von Klasse fünf an. Dabei gibt es längst auch eine höhere Nachfrage von Externen für die Oberstufe als Plätze vorhanden sind. Es ist nicht übertrieben, bei der Gesamtschule Erle von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen. Alles bestens also? So würde Schulleiter Andreas Lisson es nicht in jeder Beziehung formulieren.
Der langjährige Realschulleiter hatte selbst dafür gekämpft, „seine“ damalige Gerhardt-Hauptmann-Realschule samt der benachbarten Hauptschule in eine Gesamtschule umwandeln zu dürfen. Er hielt integrierte Schulsysteme für das Gebot der Stunde, und das tut er heute mehr denn je. Trotz aller Probleme, die sich nicht allein aus der katastrophalen Raumnot seiner Schule ergeben.
„Gesellschaft wandelt sich und Schule ist der Spiegel der Gesellschaft. Das soziale Miteinander tritt immer weiter zurück. Wenn die Gesellschaft aber auseinanderdriftet, dann muss man umso mehr dagegen wirken. Und das funktioniert nur an integrierten Schulen, die Kinder nicht in Schubladen sortieren und trennen. Die gesellschaftlichen Gruppen begegnen sich hier, lernen miteinander. Und das ist in diesen Zeiten das Allerwichtigste: das soziale Miteinander wieder zu stärken“, ist Lisson überzeugt.
Der Schulleiter hat die gesellschaftlichen Spaltungen schon lange beobachtet, das veränderte Verhalten auch in den Familien. Eltern, die beim Schieben ihres Kleinkinds im Kinderwagen nur auf ihr Smartphone blicken statt dass Kind anzuschauen und mit ihm zu sprechen, ihm Sprache näher zu bringen. Unter anderem ein Ergebnis der allgemein allzu starken Dominanz von digitaler statt direkter Kommunikation sei die jüngst nachgewiesene katastrophale Lesekompetenz von Viertklässlern.
Das pädagogische Team in Erle zählte beim Start mit den 150 Fünftklässlern im ersten Jahr nur 13 Lehrkräfte, Abordnungen anderer Schulen unterstützten das aufwachsende Team. Heute sind es für die mehr als 1200 Schülerinnen und Schüler 160 Pädagogische Fachkräfte – samt Sonderpädagogen und anderen multiprofessionellen Unterstützern, 15 Stellen sind unbesetzt. Nicht, weil es gar keine Lehrkräfte gäbe, sondern weil noch immer für Gesamtschulen der 47-Prozent-Deckel für Pädagogen mit Sekundarstufe-II-Befähigung gilt. Für Gymnasien gilt diese Grenze nicht. „Dabei haben die ja auch eine Sekundarstufe-I“, sagt Lisson und schüttelt den Kopf.
Schulleiter: „Ich verstehe, wenn Eltern sauer sind, weil soviel Unterricht ausfällt“
Nachfragen beim Ministerium, ob diese Grenze nicht endlich angesichts ohnehin angeglichener Bezahlung aufgehoben werden könne, blieb ohne Folgen. Es werde geprüft, ob man die Grenze auf 51 Prozent anheben könne, hieß es. „Ich kann gut verstehen, wenn die Eltern hier protestieren, sauer sind, weil so viel Unterricht ausfällt. Ich habe ein engagiertes Team, aber wir sind einfach zu wenige“, bekennt er.
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Die vom Ministerium vorgeschlagene Lösung des Personalmangels über Seiteneinsteiger sieht er sehr kritisch. „Gerade heute, bei den vielfältigen Herausforderungen, sind die pädagogischen Fähigkeiten ja noch viel wichtiger. Den Stoff zu wissen, genügt einfach nicht. Wir hatten schon Fälle, in denen ich befristete Seiteneinsteiger-Verträge nicht verlängert habe. Es gab aber auch gute Erfahrungen mit Studierten mit zwei Fächern, die die pädagogische Ausbildung nachgeholt haben“, so Lisson.
Eine Dauerbaustelle an der jüngsten der Gesamtschulen ist die Raumnot. Die Jahrgänge fünf und sechs an der Frankampstraße sind gut ausgestattet, der Schulhof in den letzten Zügen einer üppigen Renovierung. Aber mehr als fünf Eingangszüge kann man aus Platzgründen nicht bilden, alle Klassen haben 29 Kinder, eins mehr als eigentlich vorgesehen. Trotz zugewanderten und inklusiv beschulten Kindern in jeder Klasse. 249 Bewerbungen um 145 Plätze und somit 104 Ablehnungen – so viele wie sonst nirgends – gab es allein in diesem Jahr, im Vorjahr war die Situation genauso.
Das Hauptgebäude an der Mühlbachstraße könnte an vielen Stellen eine Renovierung gebrauchen, vom Ausbau ganz zu schweigen. Die Oberstufe ist komplett ausgelagert, an den gut modernisierten Standort Surkampstraße. Die Internationalen Förderklassen lernen an der Surressestraße; was manchem Pädagogen wegen der räumlichen Trennung nicht gefällt, aber offenbar recht gut funktioniert.
Das Ergänzungsgebäude mit Stadtteilbibliothek und Mensa sollte eigentlich längst eingeweiht sein. 2016 war erstmals der Neubau mit Stadtteilbibliothek und neuer Mensa mit der benachbarten Bezirkssportanlage in politischen Gremien besprochen worden. 2019 sollte es soweit sein. Bis heute ist jedoch nicht einmal der erste Spatenstich gesetzt. Ein Architektenstreit wegen explodierter Baukosten – die allerdings auch mit unbekannten Baubedingungen für die Versorgungsleitungen zusammenhingen – Corona und Personalnot sei Dank – unter anderem.
Baufirma sprang kurz vor Fertigstellung plötzlich ab
Nun soll der ursprüngliche Entwurf umgesetzt werden. Wie und wann genau – Lisson weiß es nicht. Im nächsten Jahr wird man hier wohl erneut Bewerber ablehnen müssen. Immerhin ist der Schulhof an der Frankampstraße jetzt wirklich schön saniert. Fast jedenfalls. Zum Schulfest anlässlich der „Volljährigkeit“ der Schule am Samstag, 3. Juni, steht in der Mitte noch eine abgesperrte Baustelle statt Klettergerüst: Das Bauunternehmen ist kurz vor Abschluss der Arbeiten abgesprungen, die letzten Arbeiten müssen neu ausgeschrieben werden…
Kräftig gefeiert mit den eingeladenen Nachbarn und der ganzen Schule wird am Samstag, 3. Juni, trotzdem: Von 13 bis 16 Uhr erwartet Gäste ein üppiges Programm. Der offizielle Festakt mit geladenen Gästen und Schulaufsicht und der Uraufführung des eigens komponierten Schulsongs „Hier in Erle“ mit der Schulband fand am Freitag bereits statt.