Gelsenkirchen. Gelsenkirchen wird von einer Raubserie durch Jugendliche heimgesucht. So viele Verdächtige hat die Polizei gefasst, so viele Fälle sind gelöst.
Es ist eine unheimliche Serie. Seit Herbst vergangenen Jahres rauben kriminelle Teenager und Jugendliche immer wieder Gleichaltrige oder Jüngere in Gelsenkirchen aus. Es vergeht mitunter kaum ein Tag, an dem die Polizei nicht von einem neuerlichen Beutezug berichtet. Die Raubserie in der Emscherstadt war deshalb schon Thema im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags. Reagiert hat auch das Polizeipräsidium: mit einer speziellen Ermittlungskommission, mit verstärkten Kräften in den Quartieren, teils inkognito.
Teenager-Raubzüge in Gelsenkirchen: 165 Straftaten, Aufklärungsquote von 64 Prozent
Im Netz der Polizeifahnder haben sich bislang „92 Tatverdächtige“ verfangen, seit im September 2022 die 20-köpfige Ermittlungskommission „König“ ihre Arbeit aufgenommen hat. König, weil viele der Taten in der Gelsenkirchener Innenstadt rund um den Heinrich-König-Platz verübt worden sind. Und dort in der Vergangenheit bereits Jugendliche durch Pöbeleien, Diebstähle und Bedrohungen aufgefallen waren. Meist gegenüber Passanten und Geschäftsleuten.
Im Herbst 2022 änderte sich die Situation. Ins Visier krimineller Teenager und Jugendlicher gerieten mehr und mehr Gleichaltrige und Jüngere – denen mit Gewalt Bargeld, das Handy oder die Kopfhörer geraubt wurden. 165 solcher Teenager-Raubzüge sind die Beamtinnen und Beamten nachgegangen, zwei Drittel der Fälle, in absoluten Zahlen 107, „sind aufgeklärt“, wie Polizeisprecherin Merle Mokwa auf Anfrage dieser Zeitung jetzt mitteilt.
Nach Freilassung aus Jugendarrest zugeschlagen – Trio angeklagt wegen Mordversuchs
Welch kriminelle Karriere darunter so manch einer trotz seines geringen Alters bereits hinter sich hat, zeigt der Fall eines 15-Jährigen, der selbst vor wesentlich älteren Opfern nicht Halt machte. Im Februar dieses Jahres schnappten bei dem 15-Jährigen mit polnischen Wurzeln die Handschellen zu.
Sechs Delikte ordnen die Ermittler ihm zu, darunter sind „räuberischer Diebstahl und Erpressung sowie mehrere schwere Raube“, die er mit einem oder zwei Komplizen begangen habe. Sogar mit einem Hammer drohte er zuzuschlagen. Beute: meist iPhones, AirPods (Kopfhörer) und kleine Bargeldbeträge. Seine Opfer waren meist zwölf bis 15 Jahre alt, eines sogar schon 19 Jahre alt.
Bemerkenswert und ebenso erschreckend ist auch: Kaum morgens aus dem Jugendarrest entlassen, beging der Jugendliche nur wenige Stunden später den nächsten schweren Raub.
Besonders krass ist auch der Fall drei Minderjähriger – ein Mädchen (15) und zwei Jungen (15, 17), die einen 61-Jährigen in einem Park an der Lohmühlenstraße/Horster Straße in Buer gelockt und lebensgefährlich verletzt haben. Die Tat gehört nicht zu der Raubserie, die die „EK König“ bearbeitet, sie zeigt aber, wie weit Jugendliche zu gehen bereit sind für ein bisschen Beute. Die drei Tatverdächtigen hatten dem Opfer auch die Geldbörse gestohlen, die später bei dem beschuldigten Mädchen gefunden werden konnte. Folge: Haftbefehle wegen versuchten Mordes.
Polizei Gelsenkirchen: Keine Bandenstruktur, keine Rädelsführer
Die Ermittler registrierten zudem, dass die Teenager-Räuber von September bis November 2022 sowie im Januar 2023 am häufigsten Straftaten verübten. Der überwiegende Teil der Tatverdächtigen „ist im jugendlichen Alter, also 14 bis 18 Jahre alt“, erklärt Polizeisprecherin Merle Mokwa. Drei Taten wurden von Heranwachsenden im Alter von 18 bis 21 Jahren sowie 17 Taten von unter 14-Jährigen begangen.
Bis zu einem Alter von 14 Jahren gelten junge Menschen in Deutschland als strafunmündig, sie können also nicht strafrechtlich belangt, beispielsweise zu einer Haftstrafe verurteilt, werden (siehe Info-Box). Bei Älteren sieht die Sache anders aus, da sind erzieherische Maßnahmen bis hin zu Jugendarrest möglich.
Wie ist die Strafmündigkeit geregelt?
Nach dem Gesetz ist man bis zum 14. Geburtstag ein Kind und kann nicht strafrechtlich belangt werden. Dieser Grundsatz gilt „ohne Wenn und Aber“, selbst wenn ein Kind im Einzelfall bei der Tat die erforderliche Reife schon hat.
Ab dem 14. und bis zum 18. Geburtstag greift die Einstufung als Jugendlicher, man ist dann bedingt strafmündig. Entscheidend ist der Einzelfall. Hält das Jugendgericht den Jugendlichen für reif genug, wendet es immer Jugendstrafrecht an. Es geht dann verstärkt darum, erzieherisch auf den jungen Menschen einzuwirken. Seine Bestrafung tritt in den Hintergrund.
Die volle Strafmündigkeit tritt mit dem 18. Geburtstag ein. Das bedeutet aber nicht, dass die Gerichte ab dann immer automatisch Erwachsenenstrafrecht anwenden. In einer „Karenzzeit“ bis zum 21. Geburtstag kann weiterhin das Jugendstrafrecht herangezogen werden, wenn der junge Mensch bei der Tat in seiner Entwicklung noch eher Jugendlicher denn als Erwachsener zu sehen ist oder die Tat selbst noch als „Jugendverfehlung“ gewertet werden kann. Ab dem 21. Geburtstag gilt das Erwachsenenstrafrecht.
Während Österreich mit der Strafmündigkeit ähnlich umgeht wie Deutschland, unterliegen Kinder in der Schweiz ab ihrem zehnten Geburtstag dem Jugendstrafgesetz. Auch in Frankreich sind Kinder mit zehn Jahren strafmündig und können ab 13 Jahren zu Gefängnisstrafen verurteilt werden.
Wie die Polizeisprecherin mitteilt, sind „mittlerweile acht Untersuchungshaftbefehle vollstreckt“ worden. Offenbar hat das Wegsperren nachhaltig Wirkung gezeigt, denn die Polizeibehörde spricht davon, dass nach den „Vollstreckungen im Februar dieses Jahres ein deutlicher Rückgang an Taten“ erkennbar sei. Die inhaftierten Tatverdächtigen sind allesamt männlich und im Alter von 14 bis 17 Jahren. Das deutet auf Mehrfach- oder Intensivtäter hin.
Polizeidirektor: „Eltern wissen von den kriminellen Karrieren ihrer Sprösslinge“
Viele, das berichtete der Leitende Polizeidirektor Peter Both bereits Ende Dezember nach ersten Ermittlungserfolgen, stammen „aus schwierigen sozialen Verhältnissen“. Bei ihnen sei keine Sozialkontrolle mehr zu erwarten, denn auch die Eltern wüssten von der kriminellen Karriere ihrer Sprösslinge. „Die Polizei hat ihre Kinder nicht zum ersten Mal nach Hause gebracht.“
Den Erkenntnissen der Polizei zufolge gibt es bei den Tatverdächtigen „keine Bandenstruktur mit einem oder mehreren Rädelsführern“, sondern sie stellen sich „als heterogene Gruppe“ dar. Einen einheitlichen „Modus Operandi“ oder herausragende Tatbegehungen habe es nicht gegeben.
Aus dem Täterkreis heraus wurden mehrere Tatverdächtige in die Initiative „Kurve kriegen“ aufgenommen. Wie viele, ließ die Behörde allerdings offen. Kurve kriegen ist ein Programm, mit dem verhindert werden soll, dass straffällig gewordene Minderjährige gänzlich in die Kriminalität abrutschen. Die Erfolgsquote des Programms liegt nach Angaben des NRW-Innenministeriums landesweit bei 46 Prozent. Das heißt, fast jeder zweite Teilnehmer wird demnach nicht mehr rückfällig.
Zu den weiteren Lebensverhältnissen der Teenager und Jugendlichen, zum Kulturkreis etwa, aus dem sie stammen, geben Polizei und Staatsanwaltschaft keine weiteren Details bekannt. Das dient dem Schutz der Jugendlichen, auch soll so eine pauschale Verurteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen vermieden werden.