Gelsenkirchen. Lesen hilft, die Welt zu verstehen. Doch extremer Lehrermangel und mangelhafte Sprachkenntnis erschweren das Lesen lernen. Wie Mentoren helfen.

Marian (10) kommt fünf Minuten vor der Zeit zu seiner Lesestunde mit Mentorin Ute Pippert. Auf seine Pause verzichtet er offensichtlich gern, und seine Lese-Patin ist auch längst vorbereitet. Sie sitzen am Erwachsenen-Tisch in der Schulbibliothek der Sternschule; für den Kindertisch nebenan mit den bunten Stühlen fühlt Marian sich zu alt. Er besucht die dritte Klasse, ist eindeutig ebenso lernwillig wie lernfähig. Doch sein Wortschatz ist noch ausbaufähig. Und dann steht da „reimen“. Beim Lesen von Vokalpaaren wie „ei“ und „au“ hat Marian oft Probleme. Aber das Wort reimen hat nicht nur das böse „ei“ in der Mitte, sondern ist auch schwer zu erklären.

Der erste Versuch, es mit Reim-Paaren wie „Tisch-Fisch“, „Haus-Maus“ zu erklären, schlägt noch fehl. Dennoch gelingt es Ute Pippert, dieses abstrakte Phänomen zu erklären, das Sprachspiele und sprachliche Kunstwerke ermöglicht. Mit der deutschen Sprache Aufgewachsene lernen es häufig schon als Kleinkind bei Fingerspielen kennenlernen (Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen). Doch bei Marian daheim spricht nur der (italienische) Vater ein wenig deutsch, und der ist wegen der Arbeit immer erst spät daheim.

„Es gibt zu wenig Bücher aus der Lebenswelt von Kindern mit Migrationsgeschichte“

Ute Pippert hat sich auf die Stunde mit Marian gut vorbereitet. Sie weiß, wo es bei ihm „hakt“, hat die Silbenfibel dabei, um die Worte mit „ei“ und „au“ gezielt üben zu können. Aber auch ein Fußballbuch kommt zum Einsatz, Marian ist Fußballfan. „Es ist schade, dass es so wenig Bücher aus der Lebenswelt der Kinder mit Migrationsgeschichte in einfacher Sprache gibt. Wenn ein Buch ein Kind richtig fesselt, dann bleibt es auch freiwillig dabei“, ist sie überzeugt. Sie weiß: Es geht hier um viel mehr als „nur“ ums Lesen. Die Welt verstehen, Lebenslust wecken, Selbstvertrauen stärken – dabei möchte sie helfen.

Ute Pippert (66) hat sich ein Leben lang mit Bildung befasst, bis zur Rente allerdings nur mit Erwachsenenbildung. Eine junge Frau, die Analphabetin war, hat sie soweit unterstützt, bis sie gut lesen konnte. Es war letztlich ein Buch, das sie unbedingt zu Ende lesen wollte, das sie durchhalten ließ.

Für Ute Pippert stand immer fest, dass sie als Rentnerin ehrenamtlich tätig werden will. Als eine Nachbarin vom Neustart der Lese-Mentoren nach der Corona-Pause erzählte und dass die Sternschule, die ihr Kind besucht, solche Lese-Paten sucht, hat sie nicht lange überlegt. Zwei Jungen betreut sie nun donnerstags in der Schule, je 45 Minuten lang. „Diese Jungen müssten in Deutsch baden“, seufzt sie. Marian bleibt die ganze Stunde hochkonzentriert dabei, hat unübersehbar Lust am Lernen.

Schulen und Verein bieten Unterstützung für Lernhelfer

Zusätzliche Helfer jederzeit willkommen

Nach einer corona-bedingten Pause ist der Mentor-Verein unter Leitung von Reno Veit und seiner Frau Stefanie 2023 neu durchgestartet. Nach einem feierlichen Auftakt in der Flora und zahlreichen Schulungen zur Einführung neuer Mentoren sind mittlerweile wieder rund 100 Leselernhelfer in Gelsenkirchen aktiv, darunter auch jüngere Ehrenamtler, die noch im Beruf stehen. Sie begleiten jeweils in den Schulen ein bis zwei Kinder für je 45 Minuten, einmal die Woche, immer am gleichen Tag, bewusst als Ritual. Besonders wirksam ist die Unterstützung der Einzelbetreuung wegen; ein Luxus, den die Kinder sonst kaum genießen können.

Wer mitmachen möchte oder nähere Informationen für die ehrenamtliche Tätigkeit bekommen möchte, kann sich an die Geschäftsstelle des gemeinnützigen Vereins an der Schalker Straße 65 oder unter 0209 40954252 melden. Die Geschäftsstelle ist aktuell nur dienstags von 9.30 bis 11.30 Uhr besetzt. Nach Vereinbarung sind aber auch andere Termine möglich.

„Wir suchen für unsere derzeit acht Lese-Mentoren sorgfältig Kinder aus, die auch Lernen möchten. Und die meisten bleiben auch lange dabei, begleiten die Kinder über mehrere Jahre in der Grundschulzeit“, erklärt Sabine Wild, Leiterin der Sternschule, die als erste das Mentor-Programm an der Schule nutzte. Die jeweilige Lehrkraft der Schützlinge unterstützt neue Mentoren auch bei Bedarf. Ob die Unterstützung durch die Mentoren auch wirklich hilft? „Auf jeden Fall“, versichert sie.

„Man muss Kinder mögen, Geduld haben und ihnen das Gefühl geben: Du bist wertvoll!“

Maire-Cecile Duclercq ist bereits seit zehn Jahren als Lese-Mentorin aktiv..Kindern helfen, die Welt zu verstehen: Das tut sie schon ihr Leben lang. Seit einigen Jahren nur noch ehrenamtlich.
Maire-Cecile Duclercq ist bereits seit zehn Jahren als Lese-Mentorin aktiv..Kindern helfen, die Welt zu verstehen: Das tut sie schon ihr Leben lang. Seit einigen Jahren nur noch ehrenamtlich. © FUNKE Foto Services | Heiko Kempken

Auch Marie-Cecile-Duclercq, der man die 78 Jahre kaum glauben mag, engagiert sich als Lese-Mentorin. Fast 40 Jahre lang war sie als Lehrerin aktiv, von 1974 bis 2004 an der Gesamtschule Berger Feld. Nach der Pensionierung arbeitete sie für die Nachbarschaftsstifter, baute den Kulturpott mit auf, betreut die Gelsenkirchener Geschichten mit und baut aktuell eine Bücherei in einer Kita „nebenan“ mit auf. Und zwar neben ihrer Tätigkeit als Lese-Mentorin an der Grundschule Dörmannsweg.

Seit zehn Jahren tut sie das, einmal in der Woche, immer zwei Kinder nacheinander. Sie hat schon viele Kinder begleitet, bis zur weiterführenden Schule und manchmal darüber hinaus. Manchmal geht sie mit den Schützlingen auch ins Theater oder in den Zoo. Aktuell sind es zwei Mädchen, ein deutschsprachiges und eines mit spanischem Hintergrund, denen sie in die deutsche Sprache und ins Leseverständnis hilft. Dabei sei Lesen das A und O, aber auch Wortspiele und Kreuzworträtsel nutzt sie zur Auflockerung.

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Ob sie besonders geeignet ist für diese Aufgabe als ausgebildete Pädagogin? „Nein, das glaube ich gar nicht. Die Voraussetzung für Lese-Helfer ist nur: Man muss Kinder mögen, Geduld haben und Kindern das Gefühl geben können: Du bist wertvoll! Du schaffst das! Das ist es, was die Kinder vor allem brauchen“, erklärt sie.