Gelsenkirchen. Die hitzigen Debatten aus Gelsenkirchens Stadtrat werden seit Mitte 2022 live gestreamt. Wie man auch dazu steht: Die Zugriffszahlen überraschen.
Sitzungen des Gelsenkirchener Stadtrates haben das Zeug, schnell zu eskalieren – und das nicht nur, seitdem sie von der Kamera begleitet werden. Ob der regelmäßige Tumult im Hans-Sachs-Haus nun gerade förderlich für die Wahrnehmung von Lokalpolitik ist? Zumindest scheint er nicht für die allzu schlechtesten Quoten zu sorgen: „Die Liveübertragung der Ratssitzungen findet ihr Publikum“, sagt Jan-Peter Totzek, Kommunikationschef der Stadt. Gerade im Vergleich zu anderen Städten bewege man sich bei den Zugriffsdaten „im ordentlichen Umfeld“.
Rats-TV in Gelsenkirchen: So wurden die Livestreams geklickt
In Zahlen heißt das: Die erste live im Internet übertragene Sitzung des Stadtrats im Juni 2022 verzeichnete 2785 Aufrufe. Hinzukommen rund 5230 nachträgliche Klicks. Denn die Aufnahme wird in der Mediathek gespeichert und kann jederzeit wieder abgerufen werden. Das Interesse hat dann zwar bei der zweiten Ratssitzung im August abrupt abgenommen – nur knapp 295 Mal wurde die Liveübetragung geklickt – dann „pendelten sich die Zugriffszahlen aber um die 1000er-Marke ein“, hält Totzek fest (siehe Tabelle).
Für die Zugriffszahlen in der Mediathek gelte „je jünger die Ratssitzung, desto weniger wurde sie natürlich nachträglich abgerufen“, so der Stadtsprecher. Der Faktor Zeit spielt nachvollziehbarer Weise also eine entscheidende Rolle. Welche Konsequenzen ergeben sich aber nun aus den Zahlen? Dass Teile der Politik nicht ganz zufrieden mit dem Rats-TV sind, zeigte sich bereits, als die WAZ das Jahr 2022 im Gespräch mit den Fraktionen rekapitulierte. „Politik dreht sich zu sehr um sich selbst. Das haben wir mit dem Rats-Livestream weiter verstärkt“, meinte da etwa CDU-Fraktionschef Sascha Kurth. Und auch SPD-Fraktionschef Axel Barton zeigte sich nicht gerade erfreut darüber, dass die Liveübertragungen auch genutzt würden, „um populistisch Hass und Hetze zu verbreiten“.
Mit Zuschauerbefragung: WH arbeitet an Untersuchung zum Rats-TV
„Das Angebot des Live-Streams ist ein Erfolg und stärkt die Partizipationsmöglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger“, sagt Barton jetzt. Um weitere Bewertungen anzustellen will der SPD-Fraktionschef nun aber erst einmal auf eine wissenschaftliche Auswertung warten, die aktuell durch die Westfälische Hochschule durchgeführt wird und auch eine Befragung der Zuschauenden beinhaltet. Laut Stadt soll sie Ende März vorliegen und der Politik voraussichtlich im übernächsten Hauptausschuss (25. Mai) präsentiert werden.
Julian Siempelkamp, Fraktionsgeschäftsführer der CDU-Ratsfraktion, wird schon konkreter. Ein „Allheilmittel für Politikbegeisterung“ sei der Livestream nicht, mit Blick auf die Zahlen sei er ein „Nischenangebot“. „Aus den bisherigen Erfahrungen haben sich aus Sicht der CDU aber Handlungsfelder ergeben, die wir weiterentwickeln wollen“, so Siempelkamp. „Neben einer besseren namentlichen Benennung der Redner, die nicht vom Rednerpult aus sprechen, gegebenenfalls auch mit Foto, müssen wir Optik und Hintergrund zuschauerfreundlicher ausgestalten.“ Dies könne die Nachvollziehbarkeit der Sitzungen verbessern.
AfD will eigene Bildrechte an den Reden – andere Fraktionen wittern Gefahr
AfD-Fraktionschef Jan Preuß macht darauf aufmerksam, dass mit Blick auf die „im Vergleich relativ guten“ Abrufe zu beachten sei, dass sich die Zuschauenden immer wieder ein- und ausloggen. „Dies führt dann eventuell zu verfälschten Zugriffszahlen.“ Insgesamt sei seine Fraktion überzeugt, dass der Livestream noch nicht bekannt genug sei. Aus Sicht der AfD liegt das daran, dass die Bildrechte bei der Stadt und nicht bei den Mandatsträgern liegen und diese so „nicht genug Werbung“ für das Rats-TV machen können – ein strittiges Thema.
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Denn eine Änderung der Bildrechte könnte zur Folge haben, dass die Fraktionen Teile ihrer Reden als Videoclips über soziale Medien verbreiten könnten – woran die AfD, die den Facebook-Algorithmus mit ihrer heftigen Rhetorik gezielt bedient, ein großes Interesse hat. Die anderen politischen Kräfte im Rat sehen die Idee naturgemäß kritisch, weil sie die Befürchtung haben, dass die AfD mit der gezielten Online-Verbreitung ihrer Reden ihren Populismus befördern könnte.
FDP Gelsenkirchen: Ratsdebatten machen Trash-Formaten Konkurrenz
Ebenjener abgefilmter Populismus hätte die Diskussionen in Teilen ohnehin schon negativ verändert, meint FDP-Fraktionschefin Susanne Cichos. „Wir produzieren zum Teil Debatten, da machen wir manchem Trash-Format bei RTL2 Konkurrenz.“ Die FDP plädiert darum für „eine Debattenbegrenzung mit adäquaten Zeit-Slots wie im Bundestag“. So könnten Leute bei Themen einschalten, die sie interessieren. Mit den Streams habe man Transparenz schaffen wollen, jedoch werde das „Chaos“ im Rat nicht transparent transportiert, weil etwa Zwischenrufe nicht übertragen würden. „Der Zuschauer bekommt kaum mit, wie undemokratisch, egozentrisch, aggressiv und beleidigend sich einige Stadtverordnete verhalten“, meint die FDP.
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„Der Livestream verstärkt typischerweise alles, was Politik schon zuvor an Debattenkultur an den Tag gelegt hat. Insofern wird er dem Anspruch an Transparenz voll gerecht“, meint hingegen Adrianna Gorczyk, Co-Fraktionschefin der Grünen. Sie nennt die bisherigen Zugriffszahlen „solide“ – und gibt sich selbstkritisch. „Wir sind für uns zu dem Schluss gekommen, dass wir bei unseren Wortbeiträgen mehr auf die Entstehung und den Hintergrund von Beratungsgegenständen achten wollen, gerade dort, wo es intensive Debatten in den Fachausschüssen gegeben hat, die ja nicht gestreamt werden.“ Das Rats-TV selbst könne durch weitere Kameraperspektiven oder bequemeren Zugriff auf die Tagesordnungspunkte verbessert werden. Zudem bräuchte es – da sind sich fast alle Fraktionen einig – eine stärke Bewerbung durch die Stadt.
Das sagen Linke und WIN
Auch die Linksfraktion findet, dass die liveübertragenen Ratsdebatten „greifbarer“ für die Bürgerinnen und Bürger gemacht werden müssen. „Peinliche Reibereien“ und „einstündige Tagesordnungsdebatten“ (die übrigens nur per Ton übertragen werden) seien ein No-Go für Menschen, die einfach mal zuschauen wollen. Deshalb sei es zumindest wichtig, wenn man den Zuschauenden „vorher sagen könnte, wann und für welche Uhrzeit bestimmte Themen voraussichtlich besprochen werden“, sagt Fraktionsgeschäftsführer Fotis Matentzoglou. In anderen Städten sei dies durchaus üblich.
Ali-Riza-Akyol von der WIN-Fraktion findet, dass die Redner auch bei der Tagesordnungsdebatte und beim Stellen von Anfragen gezeigt werden sollten. Zudem stört es ihn, dass hinter dem Rednerpult die Bezirksbürgermeister zu sehen sind. „Der Fokus wird dadurch weggelenkt“, mein Akyol.