Gelsenkirchen. Eine Gedenkstättenfahrt für junge Migranten aus Gelsenkirchen zeigt Wirkung. Lassen Politik und Stadt nun im Kampf gegen Antisemitismus nach?
„Man kommt hierhin mit ein bis zwei Fragen und geht mit 100 Fragen zurück“, versucht Shahram Faghiryar die Wirkungsmacht dieser Reise auszudrücken, als er vor den Auschwitz-Gleisen gefilmt wird. Dass die Fahrt zu dem KZ bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, sieht man ihm an – nicht nur ihm, auch den anderen 15 jungen Männern mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 17 und 22, die mit ihm an diesen bedrückenden Ort gekommen sind.
Ob jemand, der so eine Erfahrung gemacht hat, wohl jemals „scheiß Juden“ vor einer Synagoge brüllen würde, sich an antisemitischem Protest wie im Mai 2021 in Gelsenkirchen beteiligen würde?
Schwer vorstellbar wäre das. Das meint auch Joshua O. Milk vom Verein „Kerem Ke“, der die Kurden und Syrer, Marokkaner und Tunesier, Albaner und Afghanen wie Shahram Faghiryar im Oktober nach Auschwitz begleitet hat, ihre Erfahrungen mit ihnen reflektiert und im Video festgehalten hat. „Es ist etwas Nachhaltiges entstanden“, sagt Milk. „Das hat neue Erkenntnisse bei den jungen Erwachsenen geweckt.“
Gelsenkirchener Politik: 75.000 Euro für NS-Gedenkstättenfahrt gegen Antisemitismus
Nach den Solidaritätskundgebungen gegen besagten Protest vor anderthalb Jahren wollte die Gelsenkirchener Politik mehr gegen Antisemitismus tun und mobilisierte 75.000 Euro Haushaltsmittel für entsprechende Anliegen. Ein Resultat ist das „Pfad der Tränen“ genannte Gedenkstättenfahrten-Projekt von „Kerem Ke“.
Ebenfalls mit den Mitteln finanziert wurde eine Bildungsreise nach Israel, die das Schalker Fanprojekt durchgeführt hat. Hier wurden jedoch nicht direkt junge Migranten angesprochen, sondern „ein Dutzend Personen aus der aktiven Fan-Szene von Schalke 04 zwischen 18 und 27 Jahren“, wie Hendrik Jochheim, Sozialarbeiter beim Fan-Projekt, erklärt – also nicht unbedingt jene Klientel, die bei der Demo vor der Synagoge zugegen war, aber laut Jochheim wohl junge Leute, die als „Multiplikatoren“ wirken. Sie sollen das Thema Antisemitismus in der Fan-Szene künftig „immer wieder thematisieren und in den Mittelpunkt rücken“.
Auch einige Schulklassen konnten mit den Mitteln zusätzliche Gedenkstättenfahrten umsetzen, unter anderem am Berufskolleg am Goldberg und am Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe.
Kampf gegen Antisemitismus: Lässt Gelsenkirchen nach?
Nun sind die Reisen gelaufen, die Gelder aufgebraucht – und es stellt sich die Frage: Lassen Stadt und Politik im Kampf gegen Antisemitismus nach, weniger als zwei Jahre nach der Hass-Demo, die bundesweit für Entsetzen gesorgt hat?
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Denn die 75.000 Euro vom Jahr 2022 wurden für 2023 nicht noch einmal beantragt. Obwohl die Forderung durchaus auf dem Tisch lag: Ali-Riza Akyol von der WIN-Fraktion hatte verlangt, die Gelder erneut einzustellen, um weitere NS-Gedenkstättenfahrten durchzuführen – allerdings dabei dieses Mal mehr Migrantenselbstorganisationen einzubeziehen. „Ja, es waren Menschen mit Migrationshintergrund, die vor der Synagoge in dieser ungeheuerlichen Form protestiert haben“, sagt Akyol. „Deswegen habe ich mich gewundert, warum nicht mehr Gruppen angesprochen worden sind, in denen Migranten organisiert sind.“
Eine Zusammenarbeit mit der WIN meiden SPD und CDU, die in Gelsenkirchen eine Große Koalition bilden, größtenteils. Eine Ablehnung des Antrags war insofern nicht verwunderlich. Dennoch steht die Frage im Raum, warum die GroKo nicht selbst auf die Idee gekommen ist, den Kampf gegen Antisemitismus weiter politisch zu besetzen.
Gelsenkirchener Verein will auch Eltern von Migranten einbeziehen
„Unser Ziel ist weiterhin, dass wir jedem Kind ermöglichen wollen, eine Gedenkstättenfahrt zu machen“, sagt Lukas Günther, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD. „Wir haben aber die Aussage von der Verwaltung bekommen, dass 2023 ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um entsprechende Projekte umzusetzen.“ Ob das Geld wirklich ausreicht, um das Ziel der SPD (eine Fahrt für jedes Kind) umzusetzen, und was die beiden Projekte von „Kerem Ke“ und „Schalke Hilft“ bewirkt haben, soll früh im kommenden Jahr evaluiert werden. „Wir bleiben an dem Thema dran“, behauptet Günther.
Aktiv gegen Antisemitismus: Gelsenkirchener Verein will Eltern von Migranten ansprechen
Auf WAZ-Nachfrage konkretisiert die Verwaltung, wie es mit den Mitteln für 2023 aussieht. „Wir haben festgestellt, dass die 75.000 Euro aus dem Stadthaushalt nicht benötigt werden, weil Veranstalter Mittel für Gedenkstättenfahrten auch vom Land, vom LWL oder anderen Förderern bekommen können“, erläutert Stadtsprecher Martin Schulmann. Die Förderlandschaft sei also breit, was solche Projekte angehe. Gegen Antisemitismus will die Stadt selbst 2023 weiter auf verschiedenen Ebenen aktiv bleiben (Infobox).
Veranstaltung zum zweiten Jahrestag
„Die Stadt Gelsenkirchen verfügt über ein sehr breites Angebot zur Prävention von Antisemitismus“, sagt Stadtsprecher Martin Schulmann. Insbesondere das Institut für Stadtgeschichte (ISG) und die Fachstelle „demokratie.bewegen“ seien hier aktiv.
So wurde laut Schulmann unter anderem ein „umfassendes lokales Handlungskonzept gegen Antisemitismus“ erstellt. Dieses sei am 6. Dezember vom Verwaltungsvorstand verabschiedet worden und soll Anfang 2023 der Politik vorgestellt werden.
Das ISG pflegt unter anderem die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ sowie Bildungspartnerschaften mit Schulen zu dem Thema. Die Fachstelle plant eine Veranstaltung zum zweiten Jahrestag der Ausschreitungen vor der Gelsenkirchener Synagoge in Kooperation mit der jüdischen Gemeinde. Hierfür sei unter anderem der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, angefragt.
Auch der Verein „Kerem Ke“ hat schon eine Idee, wie der „Pfad der Tränen“ 2023 weitergeführt werden kann – obgleich die Finanzierungsfrage noch offen ist. „Wir würden sehr gerne auch eine Fahrt für Eltern anbieten und die Erziehung damit prägen“, sagt Joshua O. Milk. Schließlich seien es häufig die Eltern, die antijüdische Inhalte, beispielsweise aus dem Fernsehprogramm ihrer Heimatländer, aufschnappen und dann an ihre Kinder weitergeben. „So“, meint Milk, „bekommen wir noch viel mehr Nachhaltigkeit in das Projekt.“