Gelsenkirchen. „Kerem Ke“ will jene junge Erwachsene erreichen, die bei Themen wie dem Nahost-Konflikt auf einfache Antworten reinfallen. Wie das gelingen soll.
Die antisemitischen Sprechchöre bei der Hass-Demo vor der Neuen Synagoge in Gelsenkirchen im Mai 2021 waren zweifelsohne eine besonders schattige Episode der jüngsten Stadtgeschichte. Eine politische Konsequenz war, dass Politik und Verwaltung 75.000 Euro für regelmäßig stattfindende Gedenkstättenfahrten in den Haushalt einplanten, um Antisemitismus bei jungen Menschen vorzubeugen und zu bekämpfen. Nun, eineinhalb Jahre später, ist eine dieser Fahrten geplant – und der Organisator, der Verein „Kerem Ke“, hat sich vorgenommen, damit tatsächlich jene Gruppe von jungen Männern zu erreichen, die vor der Synagoge im Mai 2021 besonders negativ aufgefallen waren.
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„Kerem Ke“ ist Kurdisch „und heißt so viel wie: ,hereinspaziert’“. Und darum geht es bei uns: Eine Willkommenskultur zu schaffen“, erklärt Joshua O. Milk, der „Executive Director“ des Vereins. Die internationale Geschäftsführer-Bezeichnung ist keine Wichtigtuerei; sie ist angesichts des vielfältigen Profils des Leitungsteams bewusst gewählt – aus Peru, Syrien, Bulgarien oder Ghana kommt der engste Kreis des Vereins; hier engagiert sich der Kulturpädagoge genauso wie der BP-Manager, Sportmanager oder der Psychologe. „Es sind Leute, die sehr viel aus ihrem Leben mitbringen“, sagt Milk.
Auschwitz-Fahrt von Gelsenkirchener Verein richtet sich bewusst an junge Erwachsene
Der 2015, rein zufällig im Jahr der großen Flüchtlingsbewegungen gegründete e.V. organisiert Fußballabende, Schach-Treffen oder Veranstaltungen wie „Taco Tour“ Mitte April 2022, bei der Musik, Theater, Zauberkunst und Augenzeugenberichte von Geflüchteten auf dem Heinrich-König-Platz in einer Ukraine-Solidaritätsveranstaltung vereint wurden. Und nun eben ist „Kerem Ke“ auch verantwortlich für den „Pfad der Tränen“, das Projekt um die Fahrt nach Auschwitz-Birkenau.
Adressiert werden sollen mit dem Projekt explizit junge Erwachsene im Alter von 18 bis 27 Jahren, also bewusst eine Gruppe, die eben nicht mehr mit der Schulklasse einen Ausflug in eine KZ-Gedenkstätte unternimmt.
Milk sagt stolz, unter den 15 bisher angemeldeten Personen seien bereits „acht verschiedene Nationen“. Und darunter sei auch genau jene Personengruppe, die bei der antijüdischen Demo aufgetaucht war. „Wir arbeiten wirklich an der Basis und haben ein großes Netzwerk“, erklärt Christian Tabel, „Finance Manager“, der Schatzmeister des Vereins, zu der Frage, wie „Kerem Ke“ jene Leute erreichen konnte.
Wenn Ausgrenzung in Gelsenkirchen zu Radikalisierung führt
Natürlich seien die Bilder vor der Synagoge schlimm gewesen. „Man darf diesen jungen Menschen das aber nicht zu sehr ankreiden, dass sie dort herumgebrüllt haben. Oft geschieht dies aus Unwissenheit und einseitiger Information“, meint Joshua O. Milk. Mit Blick auf den ewigen Nahost-Konflikt werde es dann schnell zugespitzt auf die Formel „Sie haben unsere muslimischen Brüder angegriffen? Dann greifen wir sie an“; ohnehin sei die Religion ein wichtiges Vehikel hinter den Protesten.
„Die Religion ist ein sehr empfindliches Thema, weil sie so emotionalisiert werden kann“, sagt der 44-jährige Theologe. Zudem könne sie ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, gerade bei jungen Migranten, die oft Ausgrenzungserfahrung in der Gesellschaft machen. „Das kann dann zu Radikalisierung führen.“
Radikalisiert hat sich Milk nicht, ganz im Gegenteil. Ausgrenzende Erfahrung hat aber auch er als konvertierter Christ mit kurdischen Wurzeln zu Genüge gemacht, besonders im kirchlichen Kontext. Gewaltandrohungen habe er erlebt, Sprüche wie „du gehörst hier nicht hin“ habe er sich anhören müssen, als er sich damals im Bergischen Land in einer christlichen Gemeinde engagierte.
Anti-Antisemitismus-Projekt in Gelsenkirchen: Der Ruhrpott als gemeinsame Identifikationsebene
„Der Pfad der Tränen“ ist also nun ein Projekt, um sowohl erlebter als auch selbst vermittelter Ausgrenzung entgegenzuwirken. Und das nicht alleine mit der Fahrt nach Auschwitz, auch sollen die Teilnehmenden in Videos ihre Haltung zu Themen wie Rassismus und Diskriminierung reflektieren – vor und nach der Fahrt, laut Milk „idealerweise, um so zu zeigen, wie so eine Fahrt Sichtweisen verändern kann.“
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Auch soll sich im Rahmen des Projekts mit Fake News und ihrem spalterischen Potenzial auseinandergesetzt werden sowie ein antirassistisches Theater- und Poetry-Slam-Projekt entstehen. Und - im besten Fall eine Gruppenzugehörigkeit, eine gemeinsame Identifikationsebene gefunden werden.
„Das Negative in einer so multikulturellen Gesellschaft wie Gelsenkirchen ist doch für viele Menschen, dass es schwer ist, sich zugehörig zu fühlen. Man ist in einem fremden Land geboren und wird hier deswegen ausgegrenzt. Im Heimatland gehört man aber auch nicht dazu, weil man woanders aufgewachsen ist“, weiß Milk. Diese Lücke, diese Leere könne man aber mit der gemeinsamen Erfahrung hier im Ruhrgebiet füllen. „Der Pott kann dann die gemeinsame Verständigungsebene sein. Da kann man sagen: Ich denke vielleicht auf Deutsch, du auf Chinesisch oder Arabisch, aber wir sind alle offen, zugänglich, diskussionsfreudig und reden ,Tacheles“. Wir sind eben Ruhrpottler.“ Und die haben mit Antisemitismus nichts am Hut.
Weitere Gedenkstättenfahrten
Eine Anmeldung zum „Pfad der Tränen“-Projekt ist online unter keremke.de möglich. Insgesamt gibt es 22 Plätze, einige sind noch frei. Die Auschwitz-Fahrt wird in den Herbstferien vom 30. September bis 5. Oktober stattfinden. Oberbürgermeisterin Karin Welge übernimmt die Schirmherrschaft für das Projekt.
Neben „Kerem Ke“ veranstaltet auch das Schalker Fanprojekt eine Fahrt nach Israel, um dort unter anderem die Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem zu besuchen.
Außerdem werden mit den 75.000 Euro, die für die NS-Gedenkstättenfahrten bereitstehen, auch einige Schulen gefördert. Die Gesamtschule Berger Feld sowie das Berufskolleg am Goldberg werden, in Kooperation mit dem Verein „aktuelles Forum“, die ehemaligen Konzentrationslager in Bergen-Belsen und Sachsenhausen besuchen. Zudem besuchen das Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe sowie das Schalker Gymnasium die Gedenkstätten in Buchenwald und Amsterdam.