Gelsenkirchen. Kinder überfallen Kinder, Eltern drohen Lehrern, Aggression gehört zum Alltag in Gelsenkirchen. Ein Interview zur Frage, was wir ändern können.

Der Ton wird rauer, die Grundstimmung ist gereizt. Ob in der Schule, in der Arztpraxis, bei Behörden, im Bus oder bei Autofahrern: Unangemessene Forderungen und unangemessene Reaktionen auf eigentlich harmlose Bitten oder Zwischenfälle gehören zum Alltag. Zum Beispiel: Eine Mutter stürmt mitten im Unterricht in die Klasse, beschwert sich lautstark, dass ihr Kind eine zu schlechte Note bekommen habe, will wissen warum. „Haben Sie etwas gegen meinen Sohn?!?“ Dass sie alle stört wegen etwas, das ebenso gut in der Pause bzw. nach Terminvereinbarung zum Gespräch geklärt werden könnte, interessiert sie offenbar überhaupt nicht.

Rücksichtslosigkeit in der Arztpraxis und beim Amt

Szenenwechsel, in einer Arztpraxis: Ein Mann kommt rein und will zum Arzt, klagt lautstark über die Nicht-Erreichbarkeit per Telefon. Das Wartezimmer ist voll, die Schlange am Empfangstresen lang. Er stürmt direkt an den Wartenden vorbei nach vorn und will JETZT einen Termin, weil er nur heute Zeit hat, die Schulter weh tut und er es so oft vergeblich telefonisch versucht hat. Dass die anderen in der Schlange vielleicht schlimmere Schmerzen haben als er, will er nicht wissen. Er wird immer aggressiver, obwohl klar ist, dass die Mitarbeitenden nichts an der Situation ändern können.

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Ein Blick ins Bürgercenter: Eine Familie kommt ins Rathaus, braucht neue Personalausweise für den Urlaub. Der vereinbarte Termin verzögert sich, sie müssen warten. Das Kleinkind wird immer ungeduldiger, das Baby im Kinderwagen weint. Die Frau fragt höflich, ob es nicht ein bisschen schneller gehe, die Sachbearbeiterin sehe ja selbst, dass die Kinder drängeln, zumal das Baby krank sei. Die Sachbearbeiterin – hörbar genervt von irgendetwas, von dem die Bürgerin nichts weiß – bellt die Mutter an: „Es dauert solange, wie es dauert. Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja gehen und einen neuen Termin machen.“

Samstagnachmittag, ein Fußballspiel der E-Jugend, es geht um nichts. Trotzdem brüllt ein Vater über den Platz, nachdem sein Sohn sehr offensichtlich unabsichtlich gerempelt wurde: „Dave, lass dir das bloß nicht gefallen, zieh ihm die Pinne weg!“ – Die Beispielliste ließe sich lange fortsetzen. Unter anderem durch Kinder, die andere Kinder bedrängen, ihnen die Handys abzocken, in Kleingruppen die Schule schwänzen, um anderswo Gleichaltrige anzugreifen.

Warum es so verhängnisvoll ist, dass wir immer öfter nur uns selbst sehen

Ungeduld, Unbeherrschtheit, überzogene Erwartungshaltungen, rücksichtslose Forderung nach Wunscherfüllung JETZT ohne Rücksicht auf die Machbarkeit und die Angemessenheit in der jeweiligen Situation, harsche Reaktionen auf eine harmlose Bitte nehmen zu. Wir haben Simone Köhler als Coach mit dem Schwerpunkt Haltung und Resilienz und Leitungsmitglied der kooperierenden Fortbildungseinrichtungen „Forum Eltern und Schule“ und „Austausch und Begegnung“ der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschulen NRW e.V., gefragt, wie Sie auf dieses veränderte Miteinander blickt.

Simone Köhler ist Coach mit dem Schwerpunkt Haltung und Resilienz. Im Interview spricht sie über mögliche Wege zum besseren Miteinander. 
Simone Köhler ist Coach mit dem Schwerpunkt Haltung und Resilienz. Im Interview spricht sie über mögliche Wege zum besseren Miteinander.  © Simone Köhler

Frau Köhler, warum sehen so viele Menschen nur (noch) sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse? Oder wird es nur gefühlt schlimmer?

Die Entwicklung hin zu einem egozentrierten Verhalten scheint schlimmer zu werden, wobei das Wort „schlimmer“ durchaus deutlich macht, dass es vorher schon schlimm war und die Gründe hierfür sind vielfältig. Schnelle Antworten und Lösungen gibt es in den seltensten Fällen. Und wir verlieren dabei womöglich die zahlreichen anderen Menschen, die, die freundlich, kooperativ, unterstützend sind, aus dem Blick. Bei Ihnen könnte ein Teil der Lösung liegen.

Wie kommt es dazu, dass Menschen – Erwachsene und Kinder – ihre Umwelt so sehr ausblenden, so aggressiv reagieren, der Umgangston oft so rüde ist? Dass schon Kinder gewalttätig werden?

Nun, wir alle blenden Informationen und Teile aus unserer Umwelt aus. Müssten wir jedes einzelne Staubkorn wahrnehmen, würden wir verrückt. Was die Gründe für die zunehmende Aggression und Gewalt angeht, so werden Sie, je nachdem, ob Sie einen Psychotherapeuten, eine Lehrer:in oder Sozialwissenschaftler:in fragen, eine andere Antwort bekommen. Es kommt auf den Standort an, von dem aus Sie Menschen und ihr Verhalten betrachten und welche Worte Sie dann zur Beschreibung nutzen. Und daraus resultiert auch, was Sie, was ich, was wir alle eventuell ausblenden.

Bezogen auf Ihre Frage heißt das: Die Gründe sind vielfältig und die Antworten reichen von Vernachlässigung über Überforderung bis hin zu Medienkonsum und Social Media. Und dazwischen gibt es noch eine Menge Grautöne. Aus meiner Sicht spielt eine Überforderung mit einer sich in kürzester Zeit verändernden Welt, in der nichts mehr an seinem Platz ist, eine entscheidende Rolle: Unter anderem das lange nicht geübte Sozialverhalten durch fehlende Außenkontakte in den Corona-Lockdowns, die auseinandergebrochenen Klassenstrukturen, Krisen wie der Krieg in der Ukraine, steigende Preise, die weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich, der Klimawandel – es kommt so vieles zusammen, das verunsichert, Angst macht und Sehnsucht nach einfachen, bekannten Antworten und Strukturen schürt.

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Aber Krisen hat es immer gegeben und Deutschland geht es im internationalen Vergleich ja blendend. Haben wir ein interkulturelles Problem?

Ich bin keine Expertin für interkulturelle Fragen. Für mich ist die Frage eher die nach einem gelungenen Design einer offenen Gesellschaft, eines Aushandelns darüber, wie wir miteinander leben wollen. Das ist anstrengend, braucht Mut und die Bereitschaft, angestammte Meinungen und Plätze zu verlassen.

Bei Autofahrern ist das Aggressionspotenzial ebenfalls hoch. Wüste Beschimpfungen des fremden Verkehrsteilnehmers werden auch im Beisein von Kindern oft nicht gebremst: Ein fatales Signal.
Bei Autofahrern ist das Aggressionspotenzial ebenfalls hoch. Wüste Beschimpfungen des fremden Verkehrsteilnehmers werden auch im Beisein von Kindern oft nicht gebremst: Ein fatales Signal. © Getty Images | RapidEye

Fakt ist, dass Gewalt und Raubdelikte unter Jugendlichen und vor allem an Schulen zugenommen haben.

Aus meiner Profession stellt sich eine andere Frage: Wenn Aggressionen an Schulen zugenommen haben, was braucht es dann, um sowohl die Schülerschaft als auch die multiprofessionellen Kollegien und Eltern so zu stärken, dass das Feld für Gewalt jedweder Form für die Täter:innen zu ungemütlich wird? Welche Klarheit und Haltung sind hier dienlich und wie können sie etabliert werden? Die Übergriffe passieren nicht im luftleeren Raum. Gleichzeitig braucht es bei begangenen Straftaten eine strafrechtliche Verfolgung, auch bei Strafunmündigen muss es Konsequenzen geben. Und ebenfalls gleichzeitig Überlegungen zur Prävention von Straftaten, die dann wiederum auch an Schule stattfinden kann, aber sicherlich nicht nur hier.

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Wie kann die Gesellschaft, aber auch der Einzelne solchem Verhalten entgegenwirken, das Miteinander stärken?

Ich habe nicht die eine Antwort auf alle großen Probleme. Selbstreflexion und Bewusstheit über die eigene Haltung, von der aus ich denke, spreche, handele zu trainieren kann ein Weg sein. In Schule zum Beispiel durch die Einrichtung von dialogischen Räumen, das Etablieren von festen Zeiten, in denen einander wirklich zugehört wird. Nicht nur für die Schüler:innen, auch für die Lehrkräfte und alle am System Schule Beteiligten. Nicht nur an sogenannten Problemschulen. Hierbei geht es dann nicht um das Erlernen einer bestimmten Methode, sondern um das Etablieren und Verankern einer deutlich anderen Kultur des Miteinanders. Schritt für Schritt. Und wir, die vielen Kinder und Erwachsenen, die große Mehrheit, die nicht gewalttätig ist, uns braucht es im Alltag: Ein freundliches Wort an der Supermarktkasse, wenn jemand gestresst hinter uns steht oder bei Begegnungen auf der Straße mit Fremden: Einfach mal lächeln, freundlich auf andere und die Welt blicken. Das kann vieles ändern an der Grundstimmung, wenn auch nicht alle Probleme lösen. Wie gesagt: Es braucht die vielen Friedlichen, die nicht Aggressiven.