Gelsenkirchen. Der Talentaward 2022 geht an vier vorbildliche Talentförderer, darunter einen Gelsenkirchener: den Vater des „muTiger“-Zivilcourage-Konzepts.
Ernst Nieland wirkt ganz freundlich. Und doch ist er immer der Böse. Derjenige, der das schüchterne Mädchen im Bus blöd anmacht oder an der Supermarktkasse fiese Witze über den Stotterer vor ihm reißt; derjenige, der dem alten Mann am Rollator bewusst in die Quere kommt oder der schwarzen Frau in der S-Bahn viel zu nahe; derjenige, der dem schmalen Kerl vor der Disco Prügel androht und ihn noch tritt, wenn er schon am Boden liegt. Ernst Nieland mimt diesen Bösen – in Situationen, in denen Zivilcourage gefragt ist, ihn zu stoppen. In seinen „Zivilcourage-Workshops“ für die Stiftung „muTiger“ lehrt er seine Schüler und Schülerinnen unter anderem in Rollenspielen, wie sie Opfern beistehen können, ohne sich selbst zu gefährden. Für die zertifizierte „muTiger“-Idee sowie seinen Einsatz als ehrenamtlicher Mastertrainer für die Stiftung erhielt der 76-Jährige am Donnerstagabend den Talentaward des Initiativkreises Ruhr.
10.000 Teilnehmende haben schon die „muTiger“-Zivilcourage-Workshops absolviert
Mehr als 10.000 Erwachsene und Jugendliche – Auszubildende, Schüler, Lehrer, Betriebsteams – haben Nielands Zivilcourage-Training bereits absolviert; während der Pandemie auch digital. Der erste Workshop fand 2012 statt. Der Gelsenkirchener war gerade in Rente gegangen, als er zusammen mit der Polizei das Konzept für die in der Regel vierstündigen Workshops entwarf, „im Pferdestall des Polizeipräsidiums in Buer“, erinnert er sich. Heute fungiert er offiziell als Trainer der Trainer, übernimmt aber tatsächlich noch immer den Großteil der Kurse. „Eigentlich ein Fulltime-Job“, räumt er ein, „aber ich hab viel zu viel Spaß daran, um es zu lassen. Ich bin sehr gern die Rampensau.“
Die Idee für „muTiger“ erwuchs aus Nielands beruflicher Erfahrung als Sicherheitsbeauftragter der BoGeStra. „Ich war selbst nie der Sheriff in Bus und Bahn“, erzählt er. „Aber ich lernte viel über deren Probleme.“ Denn während Fahrer, Kontrolleure oder Sicherheitskräfte der meisten Nahverkehrsunternehmen geschult sind für brenzlige Situationen, und sich Fahrgäste in Not stets an sie wenden, fühlten diese sich oft „allein im Regen“, wenn es einmal für sie persönlich kritisch wurde, ein uneinsichtiger Schwarzfahrer etwa zu rempeln anfing, es gar zu Tätlichkeiten kam. „Viele Bürger gucken in solchen Situationen einfach weg, weil sie denken, sie können nichts ausrichten. Wir überlegten daher, was man tun kann, um sie zu ermutigen einzuschreiten“, erklärt Nieland.
Die „3-L-Regel“ wirkt: Lärm, Licht, Leute
Wobei, das ist dem dreifachen Opa und „Vater zweier Polizei-Hauptkommissarinnen“, sehr wichtig, sich niemand, der einem Bedrängten zur Seite springen will, dabei selbst in Gefahr bringen dürfe. „Achten Sie immer auf Sicherheitsabstand. Und wenn ein Angreifer ein Messer zückt: Rennen Sie weg“, rät er. Was in den meisten Fällen wirke, erklärt er mit der „3-L-Regel“: Lärm, Licht, Leute. „Erwecken sie Aufmerksamkeit für die Situation, schrecken Sie den Täter auf, so dass das Opfer entweichen kann.“ (Weshalb im Übrigen jeder Teilnehmer nach dem Workshop auch eine Trillerpfeife erhält.)
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Man sieht Ernst Nieland an, dass er zeitlebens Sport getrieben hat und noch heute dreimal pro Woche im Studio ist. Doch er sagt: „Niemand muss eine Kampfkunst beherrschen, um Zivilcourage zu beweisen.“ Empathie sei die wichtigste Eigenschaft, die man dafür mitbringen müsse. „Oft reicht es schon, wenn man sich im Bus einfach neben denjenigen setzt, der belästigt wird“, sagt der 76-Jährige. In den „muTiger“-Kursen lernen die Teilnehmer zudem, was „Körpersprache“ bewirkt und kluge „Verhaltensregeln“: Immer höflich bleiben, niemanden auslachen, den Täter am besten nicht direkt ansprechen; dem Opfer das Gefühl geben: „Du bist nicht allein“, andere um Unterstützung bitten. „Es ist auch nicht unsere Aufgabe, einen Täter dingfest zu machen“, ergänzt Nieland. Aber man könne sich merken, wie der Täter aussehe, um ihn der Polizei später präzise beschreiben zu können. („Nicht fotografieren!“)
„Wer einmal dieses Gefühl erlebt hat, helfen zu können...“
Jede, jeder, betont Nieland, kann helfen. Und wenn er oder sie in einer Notsituation nur die Polizei anrufe. Die Stiftung veranstaltet Zivilcourage-Workshops auch für Menschen mit (Seh-)Behinderung; gerade bildet der Mastertrainer zwei Ex-Lehrer aus, die später gezielt Förderschüler in Sachen Zivilcourage schulen wollen.
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„Es klappt nicht immer“, räumt Nieland ein – und erzählt von jenem jungen Kursteilnehmer „mit einer ganz erheblichen Sprachstörung“, der ihn nachhaltig beeindruckt hat. Der Mann erzählte in der Vorstellungsrunde beim Workshop, dass er schon einmal Zivilcourage bewiesen habe, einer auf offener Straße angegriffenen Person spontan zu Hilfe geeilt sei – und dafür beschimpft, verspottet und verprügelt wurde. „So schlimm, dass er ambulant im Krankenhaus behandelt werden musste“, berichtet Nieland. „Aber er sagte, er würde es jederzeit wieder tun.“ Wer einmal dieses Gefühl erlebt habe, helfen zu können, „der weiß, das ist ein saugutes Gefühl“ erklärt er.
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Den Talentaward sieht Nieland als Bestätigung seines „muTiger“-Konzepts. Viele der neuen Trainer, die er anlernt, sind ja auch ehemalige Workshop-Teilnehmer. Seine Nachfolger, hofft er, werden die Idee „mindestens europaweit“ verbreiten. Dabei wittert der gebürtige Essener keineswegs überall Feinde, will niemandem „zum Helden erziehen“. Doch er sagt: „Ich könnte ja selbst das Opfer sein. Und wenn dann alle anderen weggucken...“
>>>INFO: Der Talentaward Ruhr
Zum neunten Mal vergabt die Talentmetropole des Initiativkreises Ruhr in diesem Jahr ihre Auszeichnung für vorbildliche Talentförderer im Revier. Der Preis ist mit jeweils 5000 Euro dotiert.
Die Preisverleihung fand am 3. November statt.