Gelsenkirchen. Corona: Schulleiter in Gelsenkirchen sehen zwar keinen eklatanten Leistungsabfall ihrer Schüler, aber deutliche Veränderungen im Sozialverhalten.

Coronabedingte Rückstände in Schulen sorgen dafür, dass Schülerinnen und Schüler in Realschulen und Gymnasien nun schon zum zweiten Mal sitzenbleiben und deswegen die Schule wechseln müssen. Das teilte die Bezirksregierung Münster, die auch die Schulaufsicht in Gelsenkirchen wahrnimmt, auf Nachfrage mit. In Essen war zuletzt sogar zu hören, dass die Zahl der sogenannten Abschulungen gerade bei Realschülerinnen und Realschülern, die auf eine Hauptschule wechseln müssen, stark zugenommen hat. Wie ist die Situation in Gelsenkirchen?

Volker Franken, Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Bismarck, weiß zu berichten, dass es coronabedingt mitunter enorme Leistungsunterschiede bei seinen Schülerinnen und Schülern gibt. „Bei unseren Abiturienten gab es einerseits zahlreiche Spitzenergebnisse (von insgesamt 84 Abiturient:innen haben 15 mit einem Einserschnitt und sogar eine Schülerin mit 0,7 abgeschlossen). Lernen im Lockdown oder in hybrider Form konnte also einerseits sehr erfolgreich sein. Andererseits haben acht Schüler:innen – vermutlich aus genau diesen Gründen – das Abitur nicht bestanden.“

Auch in seiner Rede zur Übergabe der Abiturzeugnisse machte Volker Franken kein Geheimnis daraus, wie unterschiedlich hart die Lernbedingungen der vergangenen zwei Schuljahre seine Schüler getroffen haben. Zwar hat der aktuelle Jahrgang einen Gesamt-Abiturdurchschnitt von 2,48 erreicht, was immerhin der viertbeste Gesamtdurchschnitt ist, den die EGG bislang verzeichnete.

Lesen Sie auch:

Aber: „Dieser Notenschnitt ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass die Notendurchschnitte all derjenigen, die zwar zugelassen worden sind, aber die das Abitur nicht bestanden haben, aus dem Gesamtnotendurchschnitt herausgerechnet werden“, so Franken. Und zu seinem Bedauern haben acht zugelassene Schülerinnen und Schüler das Abitur nicht bestanden, was einem Anteil von 9,6 % entspricht, eine an der EGG noch nie dagewesene Quote – mehr als dreimal so hoch wie der Durchschnitt aus den letzten zehn Jahren.

Carsten Nagel, Schulleiter der Lessing-Realschule an der Grenzstraße, berichtet auf Nachfrage, dass es an seiner Schule keine signifikant höhere Zahl an Abschulungen gegeben habe. Es seien also nicht wesentlich mehr Schülerinnen und Schüler zum zweiten Mal nacheinander sitzengeblieben. „Die Pandemie mache sich aber natürlich dennoch bemerkbar. Insbesondere die Schülerinnen und Schüler, deren Prognose ohnehin nicht so gut war, haben die Versetzung nicht geschafft. Das liegt auch daran, dass sie zu Hause, ob wegen Distanzunterricht, Quarantäne oder Unterrichtsausfall, nicht dieselbe Unterstützung bekommen wie andere Schüler.“ Die Unterrichtsinhalte aufzuholen, die den Kindern und Jugendlichen pandemiebedingt nicht so vermittelt werden konnten wie eigentlich vorgesehen, sei nun die große Herausforderung für das kommende Schuljahr, so Carsten Nagel.

Frank Kaupert, Schulleiter des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums, sagt, „glücklicherweise hält sich bei uns die Anzahl der abzuschulenden SchülerInnen in Grenzen“. Durch intensive Förderangebote, gerade im zurückliegenden Halbjahr, und Beratungsgesprächen mit den betroffenen Eltern habe man die zum Halbjahr prognostizierte Zahl der Sitzenbleiber minimieren können.

Dennoch sei eindeutig festzustellen, dass vieles in den letzten zwei Jahren „auf der Strecke“ geblieben ist. Die Folgen seien Lerndefizite und Auffälligkeiten im Sozialverhalten. „Wir werden uns auch im nächsten Schuljahr intensiv damit beschäftigen müssen, Maßnahmen zur Stärkung der Sozialkompetenz zu ergreifen“, so Kaupert. Hilfreich sei dabei das vom Land NRW initiierte Programm „Ankommen und Aufholen nach Corona“, das den Schulen ein höheres Budget zur Verfügung stellt.

Dass die Kinder durch die Maßnahmen in der Pandemie „in ihrem Lernen und unter anderem auch in ihren sozialen Kompetenzen erheblich beeinträchtigt worden sind“, sei insgesamt augenfällig, bestätigt auch Michael Scharnowski, Schulleiter des Leibniz-Gymnasiums.

Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.

Ähnlich argumentiert auch Achim Elvert, Schulleiter der Gesamtschule Ückendorf. Elvert berichtet zwar auch von einer syrischen Schülerin, die 2015 nach Deutschland flüchtete und nun ihr Abitur mit der Note 1,1 bestanden hat. Und auch darüber hinaus ist der Schulleiter angesichts Leistungen der 10er und 13er „beeindruckt, wie viel Stoff noch aufgeholt wurde.“ Maßgeblich dafür seien sicher die Landeshilfen gewesen, die auch über 2022 hinaus erhalten bleiben sollten, so der Leiter der GSÜ.

Die wesentlich größeren Probleme in Folge von Corona und den Maßnahmen sieht Elvert „eher in den unteren Jahrgängen, bei den 9ern gibt es eine erhebliche Zahl an Wiederholern und auch Abgänge ohne Abschluss gibt es dort zu verzeichnen“. Und es seien nicht nur die „kognitiven Dinge, die es nachzuholen gilt“. Es gebe schon eine nennenswerte Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die nach Lockdown und diversen Quarantänen nicht so richtig „in den Trott“ zurückgefunden hätten. „Einige haben auch Vermeidungsstrategien entwickelt und sind teilweise absent, wenn die Anforderungen aus ihrer Sicht zu groß werden. Auch das Thema gab es vor Corona, ist aber gefühlt größer geworden“, so Elvert.

Lehrer sind erschöpft

Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen sehen ihre Kollegien einer repräsentativen Befragung zufolge im dritten Corona-Schuljahr in überdurchschnittlichem Maße belastet. Für das „Deutsche Schulbarometer“ der Robert Bosch Stiftung schätzten 56 Prozent der Befragten in NRW die aktuelle Arbeitsbelastung ihres gesamten Lehrerteams als „sehr hoch“ ein. Im Bundesdurchschnitt sagten das laut einer Forsa-Befragung 46 Prozent. In der Länderbetrachtung hatte NRW damit den höchsten Wert.Der Umfrage zufolge stehen aber bundesweit fast alle Lehrerinnen und Lehrer im dritten Pandemie-Jahr am Rand der Erschöpfung. Fast neun von zehn Lehrkräften in Deutschland fühlen sich persönlich stark oder sogar sehr stark beruflich strapaziert. Die meisten dehnen ihre Arbeit auf die Wochenenden aus und sehen dennoch vor allem klaffende Lücken im Lern- und Lehrplan.

Auch Andreas Lisson, Leiter der Gesamtschule Erle, freut sich darüber, dass dank „großer Anstrengungen“ des Lehrpersonals während der Pandemie kein wesentlicher Leistungsabfall seiner Schülerinnen und Schüler zu erkennen sei. Ähnlich wie andere Schulleiter berichtet aber auch Lisson davon, dass er sich mit seinem Team „insbesondere um Schwierigkeiten und Probleme im sozialen Bereich“ habe kümmern müssen. Die zusätzlichen Stellen, die die Gesamtschule Erle aus dem Programm „Anschluss nach Corona“ bekommen habe, hätten aber sowohl bei der Lernförderung im Unterricht als auch bei der Förderung im Ganztag geholfen.

Lehrer sehen Verhaltensauffälligkeiten nach Distanzunterricht bei Schülern

Eine aktuelle Forsa-Befragung unter Lehrerinnen und Lehrern bestätigt, was auch Schulleiter in Gelsenkirchen berichten: Fast alle befragten Lehrkräfte in Deutschland (95 Prozent) haben seit Beginn der Pandemie zunehmende Verhaltensauffälligkeiten bei ihren Schülern beobachtet. Viele hätten wachsende Probleme, sich zu konzentrieren oder zu motivieren, heißt es in der Auswertung. Der Anteil ihrer Schüler mit „deutlichen Lernrückständen“ wird von den Lehrern allerdings sehr unterschiedlich beziffert. Im Mittelwert sehen 41 Prozent aller befragten Pädagogen deutliche Lernrückstände – in der Länderauswertung liegt NRW hier mit 47 Prozent wiederum am höchsten.