Essen. Corona, Krieg und Krisen sorgen für höheres Aggressionspotenzial. Betroffene berichten, eine Sozialpsychologin erklärt, warum das so ist.

„Bestechungsversuche, Stich- und Schusswaffen, mehrere Polizeieinsätze, da war alles dabei“, erinnert sich Torben Vogler. Er ist Medizinischer Fachangestellter (MFA) und hat mehrere Corona-Testzentren eines Laborverbundes in ganz Deutschland geleitet. „Vor Corona gab es im Kontakt mit Patienten natürlich auch verbale Aggression uns gegenüber, aber mit der Pandemie hat die verbale Aggression enorm zugenommen, und physische Gewalt ist überhaupt erst aufgetreten.“

Vogler bestätigt, was manch einer schon geahnt haben mag: Dass die Coronakrise, und nun auch Krieg und Energiekrise, für eine „kürzere Zündschnur“ sorgen können und der ein oder andere schneller unter die Decke geht. Torben Vogler denkt dabei an einen besonders skurrilen, aber ebenso bedrohlichen Vorfall. „Das war im Herbst 2020, als die neuen Reiserückkehrregelungen und das Beherbergungsverbot kamen. Da haben wir in einer Teststelle 1000 bis 1500 Menschen am Tag getestet.“ So viele, dass das Zentrum Stunden nach der eigentlichen Öffnungszeit schließen musste, damit das Labor überhaupt noch hinterherkam.

Be- und Erstechungsversuche in der Corona-Warteschlange

Zwei Paare, frisch aus dem Urlaub, wollten das aber gar nicht einsehen. „Die sind vor lauter Wut auf die Testcontainer geklettert und haben aufs Dach gestampft, die Rollläden aufgerissen und versucht, Fenster einzuschlagen. Meine Mitarbeiter und ich mussten uns im Container verschanzen.“ Leider nicht das einzige Mal, dass das Personal um Leib und Leben bangen musste.

„Als die 3G- und 2G-Regelungen am Arbeitsplatz gegriffen haben, mussten einige Menschen jeden Morgen kommen, um sich für die Arbeit frisch testen zu lassen“, erzählt Vogler, nicht jeder hätte dabei die nötige Wartezeit eingeplant. Da habe es dann immer wieder Handgreiflichkeiten in der Warteschlange gegeben, als die Situation an einem Tag eskalierte, hielt ein Mann einem Mitarbeiter ein Messer an den Hals und forderte „sofort ein negatives Testergebnis“. „Und das nur“, erinnert sich Torben Vogler, „weil er in 15 Minuten auf der Arbeit sein musste.“

Angst und gefühlte Machtlosigkeit

Dass Corona, Krieg und Energiekrise für ein höheres Aggressionspotenzial in der Gesellschaft verantwortlich sein können, bestätigt Prof. Dr. Barbara Krahé ohne Umschweife. Die Sozialpsychologin lehrt und forscht an der Universität Potsdam, Schwerpunkt Aggressionsforschung, und ist Mitherausgeberin der Zeitschrift „Aggressive Behavior“. Solche Ereignisse „verunsichern und ängstigen die Menschen und machen deutlich, wie fragil die eigene Unversehrtheit und Lebenszufriedenheit sind“.

Auch interessant

In diesem Jahr sind wieder mehr Frauen und Mädchen Opfer von häuslicher Gewalt geworden.
Von Laura Lindemann und Matthias Korfmann

Aber warum ist das so? „Ein wichtiger Faktor ist die Frustration, die mit diesen Krisen verbunden ist. Corona hat zu vielen Einschränkungen der persönlichen Freiheit geführt, die als sehr belastend empfunden wurden“, antwortet die Expertin. Der Krieg in der Ukraine habe für Menschen in Deutschland vor allem finanzielle Sorgen mit sich gebracht, erheblich verantwortlich sei außerdem die Klimakrise, „die ebenfalls mit einer Kombination aus Angst und gefühlter Machtlosigkeit verbunden ist“.

Wut senkt die Hemmschwelle der Aggression

Diese Krisen hinderten Menschen an der Verwirklichung positiver Ziele und führten zu Frustration. „Dass Frustrationen die Wahrscheinlichkeit aggressiver Reaktionen erhöhen, ist in der Forschung seit langem bekannt, und jeder hat es sicher auch schon an sich selbst beobachtet“, so Krahé. „Ebenfalls gut empirisch belegt ist die menschliche Neigung, auf Einschränkungen der persönlichen Freiheit mit Widerstand zu reagieren. Wenn eine Wiederherstellung der Wahlfreiheit von außen blockiert wird, etwa durch Reiseverbote, erzeugt das wiederum Wut, die sich in einer niedrigeren Schwelle für Aggression niederschlagen kann.“

Nun könnte man glauben, dass nachvollziehbare Reaktionen auf eine tödliche Pandemie, einen Angriffskrieg und die Energiekrise eher Angst und Sorge als Wut seien. Doch „Wut kommt ins Spiel, weil der Einzelne kaum Möglichkeiten hat, die Situation zum Positiven zu beeinflussen.“ Und Wut wiederum, das betont Barbara Krahé, sei die zentrale emotionale Grundlage für aggressives Verhalten und mache es wahrscheinlicher.

Vorwurf: MFA bunkern Impfstoff für Freunde des Arztes

Hannelore König ist Präsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe, der unter anderem die Interessen von MFA und Zahnmedizinischen Fachangestellten (ZFA) vertritt – und kann ein Lied von Patienten mit kurzer Zündschnur singen. „Es ging in der zweiten und dritten Welle der Pandemie los“, berichtet König, „als der Grippeimpfstoff vergriffen war.“ Erstmals sahen sich MFA mit dem Vorwurf konfrontiert, „sie würden den Impfstoff vor den Patienten verstecken.“

Auch interessant

In diesem Jahr sind wieder mehr Frauen und Mädchen Opfer von häuslicher Gewalt geworden.
Von Laura Lindemann und Matthias Korfmann

Einige Patienten glaubten auch zu wissen, warum: „Der Impfstoff werde für Freunde des Chefs zurückgelegt, so die Anschuldigung“, erzählt Hannelore König, „teilweise mit ausfallenden Beschimpfungen formuliert, die unter die Gürtellinie gingen.“ Als es dann um die Coronaimpfstoffe ging, habe sich die Lage nochmals verschärft. „Deswegen haben wir uns im Juni 2021 auch mit dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn per Videokonferenz zur Situation der MFA ausgetauscht und unsere Sorgen geschildert.“

Ausnahmezustand in Praxen: Hausverbote und Polizeieinsätze

Gleichzeitig erhöhte sich der Druck für MFA aber auch mit Blick auf potenziell negative Coronatestergebnisse. „Da wurde den MFA teilweise Geld geboten, damit der Test auch wirklich negativ ist, Kolleginnen haben mir sogar berichtet, dass sie mit einem Messer bedroht wurden.“ Die gute Nachricht, immerhin: „Dieses Verhalten kommt nicht von der großen Masse der Patienten.“

Aber es seien auch keine Einzelfälle mehr „Es mussten Hausverbote mit Polizeiunterstützung durchgesetzt werden Gegen Kinderarztpraxen, die sich an die Impfempfehlungen des Robert-Koch-Instituts gehalten haben, wurden regelrechte Hetzkampagnen geführt.“ Die Schultern, auf die sich diese Lasten verteilen, werden zudem immer weniger. „Viele MFA haben ihrem Beruf den Rücken gekehrt, wegen fehlender Wertschätzung, der hohen Stressbelastung und eben diesen Vorfällen.“

Was jeder Einzelne gegen die Aggression tun kann

Hannelore König wünscht sich mehr Verständnis und Solidarität für MFA und ZFA von der Gesellschaft und den Verantwortlichen der Politik. Wichtig ist, dass die Ärzte hinter ihren MFA stehen, „damit sie eine Handlungssicherheit haben, wenn sie etwa ein Telefonat mit einem aggressiven Patienten beenden, indem sie auflegen.“

Sind wir Wut und Aggression im Antlitz globaler Krisen also schutzlos ausgeliefert? Nicht unbedingt, erklärt Barbara Krahé. Meditation und Achtsamkeitsübungen seien etwa ein erster Schritt, um die eigenen, negativen Emotionen besser regulieren zu lernen. „Wichtig ist auch, wie die negativen Erlebnisse, die zu Wut führen, interpretiert werden. Wir reagieren mit mehr Wut auf negative Erlebnisse, wenn wir denken, eine andere Person habe sie absichtlich verursacht, als wenn wir annehmen, sie seien aus Versehen oder per Zufall passiert.“ Dass der MFA im Wartezimmer von der Pandemie mindestens genauso geschlagen ist wie man selbst, kann also eine hilfreiche Erkenntnis sein.

Vielleicht noch ein wenig hilfreicher und angenehmer: „Die Forschung zeigt auch, dass es in der konkreten Situation hilft, Gedanken zu aktivieren, die mit der Wut unvereinbar sind. Zum Beispiel, sich an ein schönes Erlebnis zu erinnern oder an einen lieben Menschen zu denken. Das schafft ein Gegengewicht zur Ärger-Erregung und mildert sie ab.“

>> ANTI-AGGRESSIONSTRAINING: ZAHLT DIE KRANKENKASSE?

  • Ob die Krankenkasse ein Antiaggressionstraining bezahlt, lässt sich nicht pauschal beantworten.
  • Stellt etwa ein Psychologe eine psychische Störung mit sogenanntem Krankheitswert fest, zahlen die Kassen. Alternativ beraten die Krankenkassen auch direkt zu möglichen Maßnahmen.
  • Die Krankenkasse DAK-Gesundheit etwa rät auf ihrer Website zu Sport, um Aggressionen abzubauen. Viele Kampfsportschulen in Deutschland bieten „Managerboxen“ an, Kampfsporttraining, bei dem es um denn Stressabbau anstelle richtiger Kämpfe geht.