Gelsenkirchen. 690 – eher unbekannte – Marktführer in ganz NRW zählt eine Forschungsstudie auf, sechs davon in Gelsenkirchen. Wo und wie sie weltweit punkten.

Sie sind die unbekannten Weltmarktführer, die Hidden Champions. Eine Studie des Forschungszentrums Mittelstand (FZM) der Universität Trier hat im Auftrag des NRW-Wirtschaftsministeriums diese „besonders erfolgreiche Subgruppe mittelständischer Unternehmen“ untersucht und identifiziert, so Dr. Jörn Block, Sprecher des Forschungszentrums. 690 Marktführer in ganz NRW zählt die Analyse auf – die meisten (50) im Märkischen Kreis. Bei den Großstädten schneiden Köln (47) und Düsseldorf (34) besonders stark ab. Und das Revier? Dortmund, Duisburg und Essen kommen auf jeweils neun, Gelsenkirchen auf sechs, Bochum auf fünf und Mülheim auf zwei entsprechende Firmen.

„Starke Nischenfokussierung“, ausgeprägte Exportorientierung, „hohe Kundennähe“

Die kleinen und mittleren Firmen gelten als Zugpferde der Wirtschaft. Hidden Champions zeichnen sich insbesondere „durch ihre ambitiösen Wachstumsziele, umfassenden Internationalisierungsbemühungen“, die „starke Nischenfokussierung“, ausgeprägte Exportorientierung, „hohe Kundennähe, enge Mitarbeiterbeziehungen und kontinuierliche Innovationen aus“, definiert die Studie. Zudem erstellten sie einzigartige Qualitätsprodukte und etablierten branchenweite (Technologie-)Standards.

Wichtig sind drei weitere Kriterien: Marktführerschaft, Umsatz und Bekanntheitsgrad. Ein Unternehmen gilt als Hidden Champion, wenn es zu den Top-3-Unternehmen auf dem Weltmarkt zählt oder die Nummer 1 auf einem Kontinent ist, einen Umsatz von weniger als fünf Milliarden Euro erwirtschaftet und über einen geringen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit verfügt.

In Gelsenkirchen gelten diese Kriterien (mehr oder minder) für diese sechs Unternehmen:

Norres-Schlauchtechnik: Mehrfach auf dem Weltmarkt-Führer-Index

Als Spezialist für Schlauchverbindungen steht Norres auf dem Weltmarktführer-Index der Wirtschaftswoche.
Als Spezialist für Schlauchverbindungen steht Norres auf dem Weltmarktführer-Index der Wirtschaftswoche. © Norres

Schläuche und Verbindungssysteme sind das internationale Geschäft von Norres Schlauchtechnik. Das Unternehmen in Schalke-Nord wurde für seine Innovationen mehrfach prämiert und stand von 2019 bis 2021 stets auf dem Weltmarktführer-Index der Wirtschaftswoche.

Norres übernahm 2021 die niederländische Baggermann Gruppe. Zum gemeinsamen Portfolio gehören abriebfeste, antistatische oder elektrisch leitfähige Schläuche für die Lebensmittel- und Pharmaindustrie, für Siebmaschinen, Kfz sowie Schläuche und Kupplungen für Silofahrzeuge.

Norres, 1889 gegründet, hat weltweit 300 Mitarbeiter, davon gut 200 in Gelsenkirchen. (Produktions-) Standorte sind unteranderem in Holland, Schweden, Italien und China. Ralf Dahmer übernahm 2020 den Geschäftsführer-Posten. Der langjährige Geschäftsführende Gesellschafter Burkhard Mollen wechselte in den Beirat. Umsatzzahlen nennt das Unternehmen traditionell nicht.

Oexmann: Die Eiswaffel-Weltmeister aus Schalke

Monika und Thomas Oexmann auf ihrem Firmenhof. Mit der eigenen Lastzugflotte werden Industriekunden in Deutschland und der Schweiz beliefert.
Monika und Thomas Oexmann auf ihrem Firmenhof. Mit der eigenen Lastzugflotte werden Industriekunden in Deutschland und der Schweiz beliefert. © Funke Foto-Services | Ingo Otto

Die Oexmann GmbH & Co. KG ist ein Hidden Champion, versteckt in Schalker Vorort-Beschaulichkeit. Das Familien- und Traditionsunternehmen, gegründet von Karl Oexmann, der ab 1926 eine Waffelbäckerei aufbaute, produziert Eishörnchen für die Speiseeisindustrie weltweit. Und das in riesigen Mengen: 15.000 bis maximal 20.000 knusprige Eiswaffeln werfen Maschinen und Ofenstrecke in der Backfabrik an der Straße Auf’m Wasserkamp aus. Pro Stunde, rund um die Uhr von Sonntag bis Samstag! Zehn Ofenstrecken laufen im langgestreckten Hallenbau. Macht Millionen Tüten täglich.

„Wir produzieren zu 95 Prozent für die Industrie“, sagt Thomas Oexmann. Mit Waffeln für Eisdielen werden nur noch einzelne Großhändler beliefert. Thomas Oexmann, Jahrgang 1969, ist seit 1997 in dritter Generation der Chef des Familienunternehmens. Eiswaffeln, sagt er, „sind global ja eher ein Nischenprodukt“. Aber eben eins, bei dem Oexmann international eine Marktführerposition besetzt und für das in Gelsenkirchen 130 Menschen arbeiten, davon rund 115 in der Produktion.

Beliefert wird die Kundschaft in Deutschland und der Schweiz mit den eigenen Lastzügen. Auch im Winter, wenn hier die Eisproduktion eher saisonal heruntergefahren wird, produziert Oexmann mit hoher Auslastung für Länder auf der Südhalbkugel der Erde. In Australien oder Neuseeland ist dann Sommer. Seine gebrauchten Maschinen verkauft der Betrieb vornehmlich nach Südostasien oder auch Länder wie den Irak.

Masterflex SE: Patente für herausragende Schlauchverbindungen

Der Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Bastin (links) und Finanzvorstand Mark Becks von der Firma Masterflex Anfang 2017: Damals wurde der Erweiterungsbau mit dem neuen Lager vorgestellt.
Der Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Bastin (links) und Finanzvorstand Mark Becks von der Firma Masterflex Anfang 2017: Damals wurde der Erweiterungsbau mit dem neuen Lager vorgestellt. © Funke Foto Services | Joachim Kleine-Büning

Im Reigen der Weltmarktführer unter den Mittelständlern sticht Masterflex SE als börsennotiertes Unternehmen heraus. 1987 gegründet, zählt Masterflex rund 700 Beschäftigte. Das Unternehmen ist organisch und durch Übernahmen (zuletzt der APT Advanced Polymer Tubing GmbH) gewachsen. Das Geschäft ist international ausgerichtet und fokussiert auf Hightech-Schläuche und -Verbindungen in den Bereichen Maschinenbau und Automotive, Luft- und Raumfahrt sowie Medizintechnik. Der Konzernumsatz 2021 wird mit 79,1 Millionen Euro beziffert. Im ersten Halbjahr 2022 hat die Gruppe eine „hervorragende“ Aufwärtsentwicklung genommen. Das operative Ergebnis vor Zinsen und Steuern stieg um 82 Prozent auf 6,7 Millionen Euro.

Masterflex hält diverse Patente, beispielsweise zur Herstellung von Schläuchen für hohe Anforderungen (Master-PUR Inline und Performance). Strategisch strebt Masterflex bis 2030 mit Zukäufen 200 Millionen Euro Umsatz an. Kürzlich nahm die Firma am Sitz in Erle eine Photovoltaik-Anlage für über 300.000 Euro in Betrieb. Der Standort wurde zuletzt 2016 um 850 Quadratmeter Lagerfläche erweitert.

August Friedberg: Mit Verbindungstechnik führend in der Windenergie-Branche

„Schrauben, die was im Kopf haben“ lautet ein Werbespruch des Unternehmens August Friedberg an der Achternbergstraße. Auf dem Firmenhof lagern Rohmaterialien.
„Schrauben, die was im Kopf haben“ lautet ein Werbespruch des Unternehmens August Friedberg an der Achternbergstraße. Auf dem Firmenhof lagern Rohmaterialien. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Das 1884 vom Schmiedemeister August Friedberg in Rotthausen gegründete Unternehmen zählt – mit einer Exportquote von 47 Prozent – zu den international tätigen Spezialanbietern hochwertiger Verbindungstechnik. Als eines der ältesten deutschen Familienunternehmen wird die Firma in vierter Generation seit 2014 von Beatrix Brand geführt.

„Schrauben, die was im Kopf haben“ lautet ein Werbespruch des Unternehmens, das selbstbewusst herausstellt: „Das Rad – die Mutter aller technischen Revolutionen – wurde erst durch die Schraubverbindung zum alles bewegenden Faktor der industriellen Entwicklung.“ Und Schrauben wie Muttern sind von Beginn an das Geschäftsfeld der Gelsenkirchener – zunächst im Massengeschäft, seit den 1970er Jahren vermehrt als Spezialanbieter.

Bei der gesamten Produktpalette für Windkraftanlagenhersteller für die sicherheitsrelevanten Verschraubungen vom Mastfuß bis zum Rotorblatt zählt sich August Friedberg zu den Weltmarktführern. Automotive, Stahl- und Hochbau sowie Spezialverbindungen sind die weiteren Geschäftsfelder.

Der Jahresumsatz wird mit 120 Millionen Euro angegeben.

Gelsenwasser: Konzern mit Wasser, Strom, Gas und Dienstleistungen

Die Gelsenwasser AG baut an der Willy-Brandt-Allee ihren Firmensitz erneut aus. Für die Westfälische Wasser- und Umweltanalytik (WWU) entsteht derzeit ein neuer Büro- und Labortrakt.
Die Gelsenwasser AG baut an der Willy-Brandt-Allee ihren Firmensitz erneut aus. Für die Westfälische Wasser- und Umweltanalytik (WWU) entsteht derzeit ein neuer Büro- und Labortrakt. © FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Gelsenwasser – ein unbekannter Branchenführer? Eher nicht. Der national agierende Konzern (mit den Sparten Wasser, Abwasser, Strom, Gas, erneuerbare Energien, neuerdings auch Breitband und IT) ist in der Region überaus sichtbar, allein schon durch seine architektonisch herausragenden Verwaltungsgebäude in Erle. Und er ist natürlich Tausenden Kunden bekannt. Dennoch erfüllt Gelsenwasser offensichtlich die Hidden-Champion-Kriterien.

Die Gruppe mit 64 Unternehmen und 46 Beteiligungen hat über 6470 Beschäftigte. Am Standort Gelsenkirchen arbeiten rund 850 Menschen für die Gelsenwasser AG, Gelsenwasser Energienetze, Erenja AG & Co. KG, AGG/Gelsenkanal, AWS (Abwasserentsorgung für Industrieunternehmen) und Westfälische Wasser- und Umweltanalytik (WWU). Die WWU-Beschäftigten werden komplett nach Gelsenkirchen ziehen, wenn der jüngste Bürokomplex samt Laborgebäude 2024 bezugsfertig ist.

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Als Alleinstellungsmerkmal sieht der Konzern sein Verbundnetzwerk für die Wasserversorgung (Stausee Haltern, Wasserwerke an der Ruhr).

Besonders innovativ ist Gelsenwasser beim Klärschlamm- und Phosphor-Recycling, im Bereich Digitalisierung, erneuerbare Energien und als Industrieparkbetreiberin im Bereich Abwasser. Die Umsatzerlöse des Konzerns stiegen von 1,7 Milliarden Euro 2020 auf 6,3 Milliarden Euro.

Amevida: Callcenter-Spezialisten für etliche Branchen

Dr. Matthias Eickhoff bei der Eröffnung eines Rekrutierungsbüros für sein Unternehmen in Gelsenkirchen. Eickhoff ist Vorstand und Inhaber von Amevida.
Dr. Matthias Eickhoff bei der Eröffnung eines Rekrutierungsbüros für sein Unternehmen in Gelsenkirchen. Eickhoff ist Vorstand und Inhaber von Amevida. © FUNKE Foto Services GmbH | Olaf Ziegler

Amevida, gegründet 1998, gilt als eines der größten inhabergeführten Unternehmen der deutschen Call-Center-Branche und beschäftigt an zehn Standorten über 2400 Menschen. Am Hauptsitz an der Berliner Brücke arbeiten 200 Beschäftigte, am Standort Leithestraße sind es rund 420.

Kundendienst, Marketing und sogenannte After Sales-Dienstleistungen bietet Amevida nach eigener Auskunft ebenso wie spezielle Branchenlösungen für Telekommunikation und Informationstechnologie, Versicherungen und Banken, Automobilindustrie und Energiewirtschaft sowie für Handel und Industrie. Die Service-Mitarbeiter der Amevida Finance GmbH gelten – mit entsprechender Datensicherheit – als Spezialisten für Banking Service, ebenso hat sich Amevida auf die Touristikbranche spezialisiert.

„Unsere Mission ist es, Ihr Leben leichter zu machen“ lautet das Leitmotiv von Vorstand und Inhaber Dr. Matthias Eickhoff. 2021 verzeichnete Amevida rund 85 Millionen Euro Umsatz.