Gelsenkirchen. Die Präsidentin des Sozialgerichts Gelsenkirchen wechselt in den Ruhestand. Zuletzt vermisste sie zunehmend den Respekt im Gerichtssaal.
Sie hat die Veränderung in der Sozialgerichtsbarkeit mitgestaltet, sah sich täglich mit den Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern konfrontiert. 17 Jahre lang war Silvia Fleck Präsidentin des Sozialgerichts Gelsenkirchen. Jetzt verabschiedete sich die 65-Jährige in den Ruhestand. Sie hätte noch bleiben und weiter Recht sprechen können. „Doch wenn der Geist der Truppe stimmt, der Spirit weiterleben wird und auf alle Kolleginnen und Kollegen Verlass ist“, sagt die leidenschaftliche Juristin, „ist der Zeitpunkt gekommen, Schluss zu machen.“
Sozialreform sorgte für viele Unklarheiten bei Gericht
Ihre Gefühlslage sei gemischt, sagt Silvia Fleck. Einerseits schmerze es, loszulassen, auf der anderen Seite sei das Gericht sehr gut aufgestellt und für neue Herausforderungen gewappnet. So werden die Papierakten nach und nach in den Schränken verschwinden und durch elektronischen Schriftverkehr ersetzt. Eine Folge des technischen Einzugs in die Justiz sind zunehmende Verhandlungen, die die Prozessbeteiligten als Video-Sitzung erleben. Die Vorteile liegen auf der Hand: weniger Papierverbrauch und schnellere Bearbeitung der Rechtsfälle. [Zum Thema: Jeder Dritte klagt wegen Grundsicherung]
Arroganz und frecher Umgangston nehmen zu – soziale Kluft wächst
Ihre Tätigkeit als Richterin fiel für Silvia Fleck in die Zeit der Sozialreform, als die Einführung von Hartz IV für viel politische Unruhe sorgte. Sie musste oft in Verhandlungen erleben, wie unklar die Gesetzauslegung war und wie häufig erst Gerichte mit ihren Entscheidungen für Klarheit sorgten. Nicht immer laufen Auseinandersetzungen vor Gericht gesittet ab.
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„Wir müssen mehr Respekt vor Gericht einfordern“, sagt die 65-Jährige. Das fange bei ordentlicher Kleidung an und höre beim Umgangston auf. Sie habe hier und da festgestellt, dass Arroganz und Frechheit auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklung geworden seien. Die Rechtsgebiete, in denen sich die Sozialgerichte bewegen, hätten außerdem gezeigt, dass die soziale Kluft in der Gesellschaft größer geworden sei. Silvia Fleck befürchtet, dass sie noch weiter wachsen werde und die Verfahren zunähmen. „Viele Menschen kommen mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht, nicht mehr klar.“ [Lesen Sie auch: Versuche an Gelsenkirchener: Tote Kinder waren gute Kinder]
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Sprache der Arbeitsagenturen für juristische Laien oft schwer zu verstehen
Zu Klagefluten ist es im Bereich der Krankenversicherung gekommen. Die Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen haben nach Erfahrung der Gerichte massiv zugenommen. Mit Vergleichsvorschlägen versuchen die Kammervorsitzenden den Streit zu schlichten und den Rechtsfrieden herzustellen. Nicht immer gelingt es. Etwas einfacher ist es nach Einschätzung von Silvia Fleck geworden, bei Unstimmigkeiten zwischen klagenden Hartz-IV-Beziehern und Jobcentern zu entscheiden. Mittlerweile hätten die Arbeitsagenturen dazugelernt, ihre Mitarbeiter besser ausgebildet und ihre Bescheide verständlicher erläutert. Die Gerichte sehen sich dennoch oft in der Rolle von Übersetzern. Die Sprache sei für juristische Laien oft schwer zu verstehen. [Auch interessant: Sozialverband erstreitet für Gelsenkirchener 494.000 Euro]
Diskriminierung von Minderheiten nimmt zu
Präsidentin auch nach Pensionierung
In Gelsenkirchen hat die gebürtige Essenerin 1984 als Referendarin ihre ersten juristischen Schritte unternommen. 1999 wurde sie Richterin. Sie war unter anderem auch am Sozialgericht Dortmund, beim Landessozialgericht, leitete eine Arbeitsgruppe im NRW-Justizministerium.
Am 29. August 2005 wurde Silvia Fleck zur Präsidentin ans Sozialgericht Gelsenkirchen berufen. Jetzt geht sie zunächst mit ihrem Ehemann auf Reisen. In Gelsenkirchen, das ihr zur zweiten Heimat geworden ist, will sie sich auch weiterhin sozial engagieren. Dass sie die Dauerkarten für ihren Lieblingsverein Schalke 04 weiter regelmäßig nutzen wird, ist Ehrensache. Ein Präsidentenamt bleibt ihr als Chef des rotarischen Fanclubs „Schalke rotiert“ auch nach der Pensionierung.
Silvia Fleck: „Wir nehmen uns viel Zeit in Verhandlungen, den Sachverhalt zu erklären und die komplexe Materie zu erläutern. Die Leute sollen verstehen, warum die Entscheidung so oder so ausgefallen ist.“ Oberstes Gebot bei der Verhandlungsführung seien Neutralität und Sachlichkeit, betont die Juristin. Sie wünscht sich mehr qualifizierten Nachwuchs in der Justiz. Es sei problematisch, Personal zu finden, da viele Juristen in die Wirtschaft gingen, weil dort mehr verdient werde. Sie will künftig die Entscheidungen vor Gericht den Jüngeren überlassen. Ein Anliegen liegt ihr besonders am Herzen. Sie spüre eine gesellschaftliche Tendenz zu Diskriminierungen von Minderheiten. So müsse sich die Justiz stets der Verantwortung bewusst sein, sich mit dem zunehmenden Antisemitismus auseinanderzusetzen. [Zum Thema: Wie Corona das Sozialgericht beeinflusst]
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Silvia Fleck ist überzeugt, dass es in ihrem neuen Leben keine Langeweile geben wird. Bei der Verabschiedung und dem Anblick vieler früherer längst pensionierter Kolleginnen und Kollegen wird sie in ihrer Überzeugung gestärkt. „Wenn ich in ihre Gesichter blicke, strahlen sie alle noch.“