Gelsenkirchen-Buer. Wie zwei Sprayer die Streetart-Kunst in Gelsenkirchen entkriminalisieren wollen. Nachwuchs soll sich auf legalen Flächen ausprobieren können.
Für die einen sind sie „Schmierereien“, für die anderen eine eigene Kunstform: An Graffitis scheiden sich die Geister, auch noch rund 30 Jahre nachdem in Gelsenkirchen die ersten Zeichnungen auftauchten. Einer, der vor Ort fast von Anfang an dabei war, ist Daniel Dinsing. Als Gesellschafter und kreativer Kopf der myposter.de-Gruppe ist er zwar nicht mehr nachts mit der Spraydose unterwegs, tagsüber aber durchaus. In seiner alten Heimat will er nun gemeinsam mit Alexander Terboven Streetart für ein Online-Archiv katalogisieren – und sich für die Förderung des Nachwuchses einsetzen, etwa mit der Legalisierung von Graffiti-Wänden.
Wie seine Leidenschaft fürs Sprayen damals angefangen hat, weiß „Dan“, wie er in der Szene heißt, noch sehr genau: „Als Jugendlicher habe ich den Film ,Wild Style’ gesehen, der die Geschichte eines Graffiti-Künstlers erzählt, und dachte nur: Wie geil ist das denn?!“ Der Bülser war schlagartig elektrisiert. In einem Bücherei-Band über S-Bahn-Bemalung suchte und fand er Anregungen und legte schließlich selbst los; zuerst allein, dann sprang der Funke auf drei Freunde über.
Ein Crashkurs vermittelte gebürtigem Gelsenkirchener Dinsing Grundkenntnisse
Die Wand, die das Quartett in den folgenden Jahren immer wieder umgestaltete, sie soll nun auch den nächsten Generationen von Sprayern als Übungsfläche dienen. Gelegen unmittelbar an der Emil-Zimmermann-Allee und der Grünanlage Lohmühle, sei sie „nachträglich legalisiert“ worden, „nachdem wir uns hier jahrelang schon ausgetobt hatten. Immer wenn einer fragte, ob wir das denn auch dürfen, sagten wir: ,Ja klar, ist alles legal’“, erzählt der Mann mit dem angegrauten Bart und dem Pferdeschwanz grinsend.
Die Grundzüge dieses Handwerks gelernt hatte er 1991 bei einem Besuch des Gelsenkirchener „Urmentors“ Uwe Rothe, der im Keller eines Hauses in Buer ein Atelier unterhielt. „Er erklärte mir in ein paar Stunden die Technik, wann ich welche Sprühdosen-Aufsätze zu nehmen hatte und wie man Flächen sowie Konturen zeichnet – ein echt krasser Crashkurs“, erinnert sich der heute 48-Jährige, während er der Wand an der Emil-Zimmermann-Allee noch eine Linie in Türkis verpasst.
Online-Netzwerk soll Gelsenkirchener Sprayern praktische Tipps geben
„gelsen.art“ steht da in großformatigen bunten Schriftzeichen: Es ist der Name eines Internet-Portals, auf dem Interessierte Informationen rund um die City- und Streetart-Szene in Gelsenkirchen finden sollen. Im Herbst etwa soll sie online gehen. „Bisher müssen sich Akteure oft Vieles mühsam zusammensuchen. Hier können sie künftig gezielt recherchieren, wo etwa legale Flächen zu finden sind, wo sie Anträge etwa zur Bemalung von Stromkästen stellen können, wo leere Spraydosen zu entsorgen sind“, berichtet Dinsing, der sich selbst als „Graffiti-Papa“ sieht und sein Wissen gerne weitergeben möchte.
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„Auch Fotos von alten Graffitis im gesamten Stadtgebiet werden wir nach und nach einstellen“, ergänzt Mitstreiter Terboven (30), der derzeit eine Unterführung an der Mühlenstraße künstlerisch gestaltet. Ihm ist es ein besonderes Anliegen, diese Streetart zu entkriminalisieren und die Szene zu vernetzen. Organisatorisch und finanziell unterstützt werden die beiden da durch das städtische Kulturreferat, denn das Künstler-Duo betritt mit seiner Archiv- und Netz(werk-)Arbeit Neuland. Eine Übersicht zu den Top-Graffitis in der Stadt suchen Interessierte schließlich bislang vergebens.
Graffiti-Künstler sind überzeugt: In Gelsenkirchen gibt’s Nachholbedarf
Dass da insgesamt Nachholbedarf besteht, darin sind sich Dinsing und Terboven einig. „In umliegenden Städten gibt’s viel mehr legale Flächen, an denen sich der Nachwuchs ausprobieren und Arbeiten anderer übermalen kann. Da ist es gut, nun neue auszuweisen.“
Beim Sprayen Selbstdisziplin trainiert
Auch wenn „Dan“ Dinsing mit seiner Familie längst im Münsterland lebt: Seiner fühlt er sich nach wie vor eng verbunden, unternahm er doch hier Anfang der 1990er Jahre seine ersten Schritte in die Welt der Graffiti-Kunst.
Nach seinem Design-Studium in Münster arbeitete er bei unterschiedlichen Firmen als Fotograf und Illustrator, bevor er 2010 als „kreativer Allrounder“ bei dem E-Commerce-Unternehmen myposter.de einstieg, deren Gesellschafter er mittlerweile ist.
Die Arbeit an Graffitis hätten seine Persönlichkeit maßgeblich geprägt, ist Dinsing überzeugt. „Ich musste nachts in einer halben Stunde unter Hochdruck ein Bild abliefern. Das ist Adrenalin pur. Von dieser Selbstdisziplin profitiere ich noch heute.“
Wenn alles glatt geht, könnten im Laufe des Jahres zwei weitere zur Verfügung gestellt werden. Sagt es und macht fix ein Foto von seinem „gelsen.art“-Schriftzug. „Wer weiß, wie schnell die Wand übermalt ist?!“ So ist das eben mit Graffitis: Solange es sich nicht um besondere Aktionsflächen handelt, dürfen sie wieder und wieder kreativ überarbeitet werden – eine flüchtige Form von Kunst.
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