Gelsenkirchen. SPD und Grüne fordern eine Gesamtstrategie gegen Kinderarmut. Was auf Bundes-, Landes-, und Stadtebene bereits gegen Armutsgefährdung getan wird.

Dieser Artikel ist Teil des Online-Dossiers zum Thema Kinderarmut der WAZ Gelsenkirchen. Lesen Sie alle Beiträge hier: Kinderarmut in Gelsenkirchen: Mitten in unserer Gesellschaft.

Das Wort „Kinder“ taucht im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung zu aller erst in Bezug auf Armut auf: „Wir wollen Familien stärken und mehr Kinder aus der Armut holen“, heißt es dort. Dafür soll eine Kindergrundsicherung eingeführt werden.

Bestehen soll die Grundsicherung aus einem festen Garantie-Beitrag. Zusätzlich erhalten Kinder aus armen Familien einen einkommensabhängigen Zusatzbetrag. Die Grünen hatten 2020 in einem Konzeptpapier einen Garantie-Betrag von 290 Euro vorgeschlagen, der pro Kind, je nach Lebenssituation und Alter, auf maximal 547 Euro steigen kann. Das Bündnis Kindergrundsicherung, das von 18 Verbänden wie der Awo, dem Paritätischen oder dem Kinderhilfswerk unterstützt wird, fordert aktuell einen Mindestbetrag von 330 Euro, der je nach Einkommenssituation der Eltern auf 699 steigen kann.

Bis die Kindergrundsicherung kommt dauert es, bis dahin kommt ein Sofortzuschlag

Wie die Grundsicherung tatsächlich konzipiert wird, soll nun eine „ressortübergreifende Arbeitsgruppe“ unter Leitung von Anne Spiegels (Grüne) Familienministerium klären. Aktuellen Infos der Regierung zufolge soll die AG „in Kürze starten.“ Für Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch eine „bittere Nachricht“, er fordert angesichts der gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise rasch deutliche Entlastung.

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Zumindest soll jetzt ein „Sofortzuschlag“ für ärmere Familien kommen. Das Gesetz wurde ins Kabinett eingebracht und sieht einen Sofortzuschlag von 20 Euro pro Monat ab 1. Juli vor. Profitieren sollen 2,7 Millionen Kinder.

SPD und Grüne in NRW fordern: „Kinderarmut muss das Top-Thema sein“

Und die Landespolitik? Weil im Ruhrgebiet, und insbesondere in Gelsenkirchen, weiterhin so viele Kinder in relativer Armut leben, fordert die Opposition im NRW-Landtag noch mehr Anstrengung im Kampf gegen Kinderarmut. „Wir brauchen hier eine landesweite Gesamtstrategie“, sagt Josef Neumann, sozialpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. „Es bedarf landespolitisch einen ganz anderen Fokus – die Kinderarmut muss das Top-Thema sein“, ergänzt Amtskollege Mehrdad Mostofizadeh (Grüne).

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Im Sozialministerium weist man darauf hin, dass die Handlungsmöglichkeiten auf Landesebene bei der Bekämpfung von Kinderarmut begrenzt seien, da die Bundesebene für die notwendigen Gesetze zuständig sei. Das Land habe aber seine Möglichkeiten genutzt und etwa die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets konstruktiv begleitet oder auf die Einführung einer Kindergrundsicherung gedrängt. Auch SPD und Grüne in NRW halten die Grundsicherung für ein wichtiges Instrument gegen Kinderarmut. Beide argumentieren jedoch, das Land könne aus eigener Kraft noch mehr leisten.

8 Millionen jährlich für Kinderarmutsprojekt: „Tropfen auf dem heißen Stein“

So sei etwa das jährliche Finanzvolumen von acht Millionen Euro für das 2018 gestartete Anti-Armutsprojekt „Zusammen im Quartier“ des Sozialministeriums „ein Tropfen auf dem heißen Stein“, sagt Sozialdemokrat Josef Neumann. Er fordert, dass bei der Gemeindefinanzierung auch soziale Aspekte, also etwa die vielen bedürftigen Kinder in Gelsenkirchen, eine Rolle spielen und Städte mit entsprechenden Herausforderungen so finanziell mehr entlastet werden.

Stand für das Projekt „Kein Kind zurücklassen!“: Die ehemalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) im Jahr 2014.
Stand für das Projekt „Kein Kind zurücklassen!“: Die ehemalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) im Jahr 2014. © WP Ted Jones | Ted Jones

Dass in diesem Zuge auch ein Altschuldenschnitt für klamme Kommunen wie Gelsenkirchen hermüsse, glaubt neben Neumann auch Grünen-Politiker Mostofizadeh. „Das Geld muss zielgenau dort hin, wo es gebraucht wird.“ Um dies zu gewährleisten, müsse etwa auch der schulscharfe Sozialindex der Landesregierung, der die personellen Ressourcen mehr nach Brennpunkt-Schulen lenken soll, „ausdifferenziert und ausgeweitet werden“.

„Gelsenkirchener Modell“: Stadt sieht sich als Vorbildkommune

Bleibt die Frage, was auf kommunalpolitischer Ebene getan wird. Obwohl die Kinderarmut weiterhin sehr hoch ist, sieht sich die Stadt Gelsenkirchen als Vorbildkommune für die Präventionspolitik. An das „Gelsenkirchener Modell“, das darin bestehe, Hemmnisse in der Entwicklung eines Kindes frühzeitig zu identifizieren und zu beseitigen, sei seit 2005 landesweit angeknüpft worden, so Stadtsprecher Martin Schulmann.

Im Zentrum der Strategie steht das Konzept der „Präventionskette“, also eine Kette an Unterstützungsleistungen für Kinder und Eltern, die sich aufeinander beziehen oder ineinandergreifen – etwa Begrüßungshausbesuche nach der Geburt eines Kindes, Familienbüros, Familienzentren an Grundschulen oder Potenzialförderung in Kitas.

Entwickelt werden die Strategien nach dem „Partizipationsindex“. Dieser zeigt: Kinder, die in Schalke-Nord, der Altstadt oder Neustadt aufwachsen, haben die schlechtesten Bedingungen für einen guten Start ins Leben, Altersgenossen in Buer-Ost die besten.

„Als Vorreiter kommunaler Präventionspolitik wurde Gelsenkirchen zum Vorbild für andere Kommunen und auch für das Modellvorhaben ‘Kein Kind zurücklassen!’“, sagt Schulmann. Jenes Vorhaben gilt als zentrales Projekt der früheren SPD-geführten NRW-Regierung unter Hannelore Kraft und wurde von Schwarz-Gelb mit dem Projekt „Kinderstark“ in ähnlicher Form fortgesetzt.

Projekte vom Land - früher und heute

„Kein Kind zurücklassen“ hieß das wohl bekannteste Regierungsvorhaben von Ex-SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.

Der präventive Ansatz des Programms wurde von der schwarz-gelben Landesregierung mit Projekten wie „Zusammen im Quartier“ (Sozialministerium) oder „Kinderstark“ (Familienministerium) in ähnlicher Form fortgeführt – und zwar, indem man sich mehr auf einkommensarme Familien fokussiert hätte, argumentiert man im Sozialministerium.