Gelsenkirchen. In Gelsenkirchen ist die Zahl der Insolvenzen nach oben geschnellt. Und Verbraucherschützer befürchten: Die größere Pleitewelle kommt erst noch.

Während landesweit deutlich weniger Unternehmen, aber dafür mehr Privatpersonen ein Insolvenzverfahren beantragt haben als ein Jahr zuvor, hat die Zahl der Pleiten in Gelsenkirchen einen überaus deutlichen Sprung nach oben gemacht. Das geht aus aktuellen Zahlen des Statistischen Landesamtes IT NRW hervor.

Christoph Zerhusen, Schuldner-Experte der Verbraucherzentrale NRW, befürchtet, dass das erst der Anfang einer noch größeren Insolvenzwelle sein könnte. Die anhaltende Teuerungswelle würde „ohne weitere staatliche Hilfen“ bald viele derjenigen Menschen erfassen, die bislang gerade noch so über die Runden kamen. „Das betrifft vor allem Niedriglohnempfänger.“

Gelsenkirchener hat eine rund 20 Prozent höhere Insolvenzquote im Land

Die genauen Zahlen: In Gelsenkirchen hat die Quote aller Insolvenzen im Zeitraum von 2020 bis 2021 laut IT NRW insgesamt um 95 Prozent zugenommen. Den Angaben der Statistiker zufolge stieg die Anzahl der Fälle von vormals 357 auf insgesamt 696. Auch in den Bereichen Verbraucherinsolvenzen, Selbstständige und andere Schuldner hat es deutliche Anstiege gegeben.

Einziger Lichtblick: die Unternehmensinsolvenzen. In Gelsenkirchen sank der Behörde zufolge die Zahl der Firmenpleiten um 19,8 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das: 81 Unternehmensinsolvenzen in 2020 stehen 65 Firmenpleiten in 2021 gegenüber.

Verbraucherinsolvenzen in Gelsenkirchen: Sprung um rund 141 Prozent nach oben

Während im Land die Zahl der Unternehmensinsolvenzen mit 9,3 Prozent rückläufig war, so war der Trend in Gelsenkirchen mit den erwähnten rund 20 Prozent sogar noch ausgeprägter. 2021 wurden bei den NRW-Gerichten 30.011 Anträge auf Eröffnung von Insolvenzverfahren gestellt. Das waren den Statistikern zufolge insgesamt 68 Prozent mehr als im Jahr 2020 (17.866 Verfahren).

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Anders sieht die Statistik bei den Verbrauchern aus – dazu zählen Arbeitnehmer, Rentner oder auch Erwerbslose. Die Zahl der Verbraucherpleiten hat in Gelsenkirchen von 231 auf 556 Fälle zugenommen und damit einen Sprung von 40,7 Prozent nach oben gemacht. Zum Vergleich: Im Zeitraum 2019/2020 sanken diese Fallzahlen noch überaus deutlich von 404 auf 231, also um 42,8 Prozent. Lesen Sie dazu auch:Gelsenkirchen: Diese Schicksale stecken hinter den Schulden

In Gelsenkirchen hat die Zahl der Insolvenzen stark zugenommen. Vor allem Ältere, Rentner, Alleinerziehende, Sozialleistungsempfänger sowie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor suchen nach Angaben von Verbraucherschützer Christoph Zerhusen zufolge verzweifelt Hilfe bei den Verbraucherberatungsstellen wie etwa an der Munckelstraße in Gelsenkirchen.
In Gelsenkirchen hat die Zahl der Insolvenzen stark zugenommen. Vor allem Ältere, Rentner, Alleinerziehende, Sozialleistungsempfänger sowie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor suchen nach Angaben von Verbraucherschützer Christoph Zerhusen zufolge verzweifelt Hilfe bei den Verbraucherberatungsstellen wie etwa an der Munckelstraße in Gelsenkirchen. © picture alliance/dpa | Roland Weihrauch

Experte: Corona hat Antragsstau ausgelöst, größere Insolvenzwelle kommt wohl noch

Christoph Zerhusen, Referent für Schuldnerberatung bei der Verbraucherzentrale NRW in Düsseldorf, blickt mit großer Sorge auf die Zahlen. Der 49-Jährige hält es für wahrscheinlich, dass auf die Städte und Gemeinden die eigentliche Insolvenzwelle noch zurollt – mit etwas Verzögerung.

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„2020 gab es bei uns in der Schuldner- und Insolvenzberatung keine Wartelisten, jetzt vergehen mehrere Monate, bis man einen Termin bekommt“, skizziert der Verbraucherschützer die Dimensionen des Problems. Lediglich für akute Notlagen seien zeitnahe Termine möglich. Die Ursachen für diese „dramatische Entwicklungsieht Zerhusen in einem „Antragsstau“.

Der habe sich gebildet, weil Beratungsstellen phasenweise über längere Zeiträume coronabedingt geschlossen gewesen seien sowie durch die Verkürzung der Restschuldbefreiungsfrist ab Oktober 2020. Damit wurden Insolvenzverfahren von sechs auf drei Jahre verkürzt. „Die Menschen haben so lange darauf gewartet, bis die Reform in Kraft tritt, und sind erst dann tätig geworden“, so der 49-Jährige.

Vor allem Ältere, Rentner, Alleinerziehende, Sozialleistungsempfänger sowie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor suchten Zerhusen zufolge verzweifelt Hilfe bei den Verbraucherberatungsstellen wie etwa an der Munckelstraße in Gelsenkirchen. „Oftmals sind das Kräfte aus der Veranstaltungsbranche, aus dem Hotel- und Gastronomiebereich, die mit Schulden von 20.000 bis 60.000 Euro zu kämpfen haben“, sagt der Experte.

Verbraucherschützer: Teuerungswelle wird Niedriglöhner als Nächstes mitreißen

Die Verbraucherschützer unterstützen die Betroffenen – oft erfolgreich –, wieder Struktur in Leben und Finanzen zu bekommen. Über Ein- und Ausgabenanalysen und entsprechende Optimierungen bis hin zu Ratenzahlungen und Insolvenz sorgen die Beraterinnen und Berater dafür, dass Wohnungsverlust oder Stromsperren meist abgewendet werden können.

IHK Emscher-Lippe rechnet bei Insolvenzen mit Nachholeffekt

Bei der Interpretation der jüngsten Insolvenz-Zahlen ist die Industrie- und Handelskammer vorsichtig, wie Jochen Grütters, Hauptgeschäftsführer der IHK Emscher-Lippe, sagte. Er verwies darauf, dass die Fallzahlen bei einer einzeln herausgenommen Stadt wie Gelsenkirchen wesentlich kleiner seien als die Gesamtzahl der Insolvenzen im Land und sich daher Veränderungen dann in größeren lokalen prozentualen Sprüngen ausdrückten.

„Sicher haben staatliche Unterstützungsprogramme dazu beigetragen, die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern“, sagte Grütters. Die Kammer rechne aber mit einem Nachholeffekt nach Auslaufen der Hilfsmaßnahmen. Zu rechnen sei daher mit einer hohen Insolvenzgefahr für kleinere Betriebe aus dem Einzelhandel, dem Gastronomie und dem Freizeitbereich. Heißt: In den kommenden Monaten könnte noch mehr Gelsenkirchener Betriebe das Aus ereilen.

Zerhusen befürchtet dennoch, dass sich Schulden und Insolvenzen noch zu einem wesentlich größeren Problemberg auftürmen werden, als sie es bereits jetzt schon tun. „Mit Blick auf die weiter explodierenden Preise für Energie und Lebensmittel wird es für Millionen Menschen in Deutschland kaum noch Einsparpotenzial im täglichen Leben geben“, sagt der Experte voraus. Die Hartz IV-Regelsätze für Kinder seien völlig unzureichend bemessen, um Kinder klimagerecht und gesund zu ernähren. Und auch die Asylbewerberleistungen reichten nicht aus. Dabei stehe Deutschland vor der nächsten Flüchtlingswelle. „Ohne weitere staatliche Hilfen reißt die Teuerungswelle als Nächstes große Teile der Niedriglohnempfänger mit.“