Gelsenkirchen. Punktlandung nach 11 Jahren Bauzeit: Die Emscher und ihre Nebenläufe sind seit Ende 2021 abwasserfrei. So lief der Emscherumbau in Gelsenkirchen.

Ein Generationenprojekt ist in Gelsenkirchen auf die Zielgerade eingebogen – weitgehend geräuschlos, skandalfrei und eher ohne großen öffentlichen Aha-Effekt. Vielleicht auch, weil sich die Dimension dieses Mammutprojekts nicht gleich erschließt: weil sie allein schon wegen der schieren Größe unfassbar scheint. Und vielleicht auch, weil ein Großteil der Bau-Milliarden (in Summe werden es deutlich über 5,4 Milliarden Euro sein) buchstäblich verbuddelt wurden.

Investiert wurden sie in den AKE, den Abwasserkanal Emscher, in die „Kanalautobahn“ zwischen Dortmund und Dinslaken, die den weit über ein Jahrhundert mit Industrieabwässern und Fäkalien gefluteten, später kanalisierten und einbetonierten Fluss vom Abwasser befreit. Ende 2021 war es so weit. Eine Punktlandung. Die Emscher und ihre Zuläufe sind abwasserfrei. Auch in Gelsenkirchen. Für die Stadt schließt sich damit ein Kreis. Weiteres Thema:55 Millionen Euro fließen in den Leither Bach

Start an den Sutumer Brücken für den Gelsenkirchener Kanalbereich

11. September 2009: Am Rhein-Herne-Kanal wird „auf der grünen Wiese“ der Baustart zelebriert. Nah an den Sutumer Brücken soll das Pumpwerk Gelsenkirchen entstehen. Der erste Spatenstich ist gleichzeitig Startsignal für den Kanalbau in Gelsenkirchen. Das große Ziel: Auf 51 Kilometern von der Kläranlage Dortmund-Deusen bis zum Klärwerk Emschermündung in Dinslaken soll der Fluss vom Abwasserkanal „begleitet“ werden. 865 Quadratkilometer groß ist das Einzugsgebiet der Emscher und ihrer Nebenläufe, rund 2,3 Millionen Einwohner leben in diesem Raum. Ihre Abwässer soll künftig der Riesensammler aufnehmen.

Und die Emscher und ihre Nebenläufe? Sollen von den gern zitierten Köttelbecken bis Mitte der 1920er-Jahre in halbwegs naturnahe Fließgewässer verwandelt werden. Allein auf Gelsenkirchener Stadtgebiet sind das der Holzbach, der Hüller Bach, der Katernberger Bach, Lanferbach, Leither Bach und Resser Bach, Schwarzbach, Sellmannsbach und Wattenscheider Bach. Weiteres Thema:Sellmannsbach wird abwasserfrei, doch der Umbau geht weiter

In Gelsenkirchen flossen rund 878 Millionen Euro in den Emscher-Umbau

„Für die Abwasserfreiheit wurde in Gelsenkirchen ein völlig neues unterirdisches Kanalsystem angelegt: 53 Kilometer lang, 758 Millionen Euro hat die Emschergenossenschaft allein hier in den Kanalbau investiert. Zusätzlich zum Kanalsystem wurden bereits auch Wasserläufe auf einer Länge von insgesamt drei Kilometern umgestaltet. Dafür investierte die Emschergenossenschaft 42 Millionen Euro“, bilanziert Ilias Abawi, Sprecher der Emschergenossenschaft. Die Gesamtinvestition ist deutlich höher. Laut Abawi, flossen in Gelsenkirchen rund 878 Millionen Euro in den Emscher-Umbau.

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Vor allem aber flossen sie erst einmal in herausragende Ingenieurs- und Arbeitsleistung, in Tausende Tonnen Beton, ein komplett neues Röhrenwerk, in Maschinen, ausgeklügelte Vortriebstechnik, in „Riesenmaulwürfe“, die auf so schöne Namen wie „Isabel“ hörten. In bergmännischer Tradition wurden Tunnel und Bohrgerät getauft, die Heilige Barbara wachte stets als Schutzpatronin auf den Baustellen.

In bergmännischer Tradition läuft der Tunnelvortrieb in Gelsenkirchen

Um den Bedarf an Riesenrohren im XXL-Format zu befriedigen, wurde im nahen Schalke-Nord extra ein Rohrwerk aufgebaut – an der Berliner Brücke, sozusagen „aus dem Nichts“ heraus entstand die Produktionsstätte, wie Werksleiter Thomas Helf 2012 nicht ohne Stolz betonte. 14.000 Rohre allein für das zentrale Baulos wurden hier gefertigt. Unikate, die besonderen Anforderungen an den Korrosionsschutz genügen müssen. „Da steckt sehr viel Entwicklungsarbeit drin. Schließlich müssen sie 100 Jahre halten“, sagte Jochen Stemplewski, bis 2016 Vorstandschef der Emschergenossenschaft und damit oberster Bauherr. Lesen Sie auch: Emscherumbau beflügelt die Immobilienpreise

Eingedeicht und betoniert: Kurz vor der Grenze zu Essen-Karnap fließt der Schwarzbach in Gelsenkirchen in die Emscher. Fluss- und Bachlauf sollen in Teilen naturnah gestaltet werden.
Eingedeicht und betoniert: Kurz vor der Grenze zu Essen-Karnap fließt der Schwarzbach in Gelsenkirchen in die Emscher. Fluss- und Bachlauf sollen in Teilen naturnah gestaltet werden. © WAZ FotoPool | BAUER, Dirk

Zum Streit zwischen dem Bauherren, der Emschergenossenschaft, und der ausführenden Firma kam es 2016. Die Arbeit auf dem zentralen Bauabschnitt ruhte monatelang. Die ausführende Baufirma Wayss & Freytag hatte massive Bauerschwernisse geltend gemacht und Nachforderungen zu ihrem 423-Millionen-Euro-Auftrag gestellt. Im Januar wurden die Ausbau- und Anschlussarbeiten am bereits verlegten Kanal eingestellt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es gab unterschiedliche Auffassungen über die Vergütungen von Leistungen im Rahmen von Vortriebsarbeiten für den Kanalbau. Bereits 2012 waren wohl die ersten größeren Probleme in Gelsenkirchen deutlich geworden. Am Ende von zwei Schlichtungsrunden stand Mitte März eine Einigung. Über die Höhe des Nachschlags, die Rede ist von einer zweistelligen Millionensumme, vereinbarten die Parteien Stillschweigen. Lesen Sie auch:Arbeit auf Gelsenkirchener Großbaustelle läuft wieder an

Erste Tunnelpatin war die Bochumer OB Ottilie Scholz

Bei der Kanal-Durchbruchfeier 2015 in Heßler waren rund 20 Tunnelpatinnen dabei. Erste Tunnelpatin war die Bochumer Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, letzte Elke Köhler. Durch den „Elke“-Tunnel grub sich Bohrmaschine „Isabel“, 130 Tonnen schwer, ans Ziel. Am 4. August war die mächtige Maschine im Startschacht am Nordsternpark angefahren worden, um sich auf den letzten 470 Metern von West nach Ost durchzubohren. Das Tempo? „18 bis 20 Meter pro Tag. Wenn es gut läuft“, erklärte damals Egbert Hohmann, Bauleiter für den zentralen Bauabschnitt 31. Auf 35 Kilometern der Baustelle zwischen Dortmund und Bottrop lagen damit – acht bis 40 Meter tief – die Rohre für den Kanal.

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Eine besondere Rolle beim Emscherumbau spielte der „Gabriele“-Tunnel. Im Februar 2013 wurde er getauft, Patin war die damalige Gelsenkirchener SPD-Bürgermeisterin und spätere EU-Abgeordnete Gabriele Preuß. Zum Schaustück für nahezu 10.000 Menschen und einmaligen Ausflugsziel wurden die 350 Kanalmeter dann im Juli. Zur Extraschicht, der Nacht der Industriekultur, gab es „Gabriele“-Tunnel hautnah. Besucher konnten 25 Meter tief über eine Bautreppe im Schacht 52 herabsteigen und von dort unterirdisch zum Schacht 53 auf der Emscherinsel queren. Über ihnen: der Rhein-Herne-Kanal.

Emschergenossenschaft führt Besucher über die Baustellen

Am Bauabschnitt in Gelsenkirchen fraß sich die Vortriebsmaschine Isabel in gut zwanzig Metern Tiefe durch den Emschermergel, um unter dem Rhein-Herne-Kanal neue Rohre für die kanalisierte Emscher zu verlegen.
Am Bauabschnitt in Gelsenkirchen fraß sich die Vortriebsmaschine Isabel in gut zwanzig Metern Tiefe durch den Emschermergel, um unter dem Rhein-Herne-Kanal neue Rohre für die kanalisierte Emscher zu verlegen. © Funke Foto Serices | Martin Möller

Immer wieder hat die Emschergenossenschaft ihre Baustellen für Besucher geöffnet, hat angehende Pumpwerke und Kanalschächte in verschiedensten Entstehungsphasen präsentiert. Auch, um die gigantischen Dimensionen des Projekts und des damit verbundenen Strukturwandels deutlich zu machen. „Der Emscher-Umbau ist eine hart erarbeitete Erfolgsstory made in Nordrhein-Westfalen. Auf dieses Generationenprojekt kann unser Land stolz sein – ich bin es“, verkündete Ministerpräsident Amin Laschet, als er im September 2018 mit Uli Paetzel, dem Vorstandsvorsitzenden der Emschergenossenschaft, in Bottrop den ersten, 35 Kilometer langen Abschnitt des AKE einweihte.

In Betrieb ging das Gesamtsystem (400 Kanalkilometer an der Emscher und ihren Zuflüssen) nun Ende 2021. Die Arbeit ist damit nicht beendet: Nun kann die Emschergenossenschaft die sauberen Gewässer naturnah modellieren: „Die Betonsohlschalen werden entfernt, die Böschungen flacher und vielseitiger gestaltet. Wo der Platz es zulässt, erhalten die einst technisch begradigten Flüsse wieder einen kurvenreicheren Verlauf“, so Abawi. Auch in Gelsenkirchen darf sich die Emscher wieder ein Stück weit breit machen – so weit es ihr der Mensch erlaubt.

Daten und Fakten zu einem Jahrhundertbauwerk für Gelsenkirchen

Im Rohrwerk an der Berliner Brücke wurden die Kanalrohre für den AKE gefertigt. Allein auf Gelsenkirchener Stadtgebiet sind es 3764.
Im Rohrwerk an der Berliner Brücke wurden die Kanalrohre für den AKE gefertigt. Allein auf Gelsenkirchener Stadtgebiet sind es 3764. © Funke Foto SErvices | Martin Möller

Der Abwasserkanal Emscher (AKE) ist in Gelsenkirchen exakt 15.110 Meter lang. Dafür wurden 3764 Rohr-Elemente mit einem Gesamtgewicht von 106.503 Tonnen vorgetrieben. Insgesamt wurden zwischen Dortmund und Bottrop, dem mit 35 Kilometer Länge größten Teilstück des AKE, 10.661 Rohr-Elemente mit Innendurchmessern zwischen 1,60 und 2,80 Meter und einem Gesamtgewicht von 213.747 Tonnen verlegt. Lesen Sie auch: Klares Wasser in der Emscher – wie es am Fluss nun weitergeht

Elf Pumpen mit 6800 PS besitzt das erste AKE-Pumpwerk in Gelsenkirchen, die maximal 12.800 Liter Wasser pro Sekunde (!) fördern können. Die Förderhöhe im Pumpwerk an den Sutumer Brücken direkt am Rhein-Herne-Kanal beträgt 26 Meter. Ohne die Pumpwerke würde der Abwasserkanal – bei 1,5 Prozent Gefälle – das Emscherklärwerk in Dinslaken in rund 80 Metern Tiefe erreichen.

Die wichtigsten Schritte und Stationen

Die Emschergenossenschaft wird am 14. Dezember 1899 gegründet. Im Bochumer Ständehaus schlossen sich die damaligen Stadt- und Landkreise des Ruhrgebietes zwischen Dortmund und Duisburg zur Emschergenossenschaft zusammen.

Das Problem:Während andernorts Kanäle gebaut wurden, um das Abwasser von Industriebetrieben und wachsender Bevölkerung abzuleiten, war dies Ende des 19. Jahrhunderts an der Emscher aufgrund des Kohleabbaus nicht möglich. Wegen der Bergsenkungen wären unterirdische Abwasserkanäle beschädigt worden. Also wurde alles Schmutzwasser in die Emscher eingeleitet. Das Flusssystem war bald überfordert, Krankheiten breiteten sich aus, Überflutungen waren an der Tagesordnung.

Die frühe Lösung: Das Emschersystem wurde darauf zu einem Netz offener Schmutzwasserläufe umgebaut, der Fluss eingedeicht und einbetoniert. 1906 begann die Emscher-Regulierung, 1914 ging das erste Pumpwerk an der Alten Emscher in Duisburg in Betrieb.

Die Erneuerung: 1982 gab es ein Pilotprojekt zur Renaturierung eines Gewässers am Dellwiger Bach in Dortmund, 1989 dann das Pilotprojekt für den Emscher-Umbau am Läppkes Mühlenbach in Essen/Oberhausen.
Die weiteren Meilensteine an der Emscher im Zeitraffer:

1991 Beschluss zum Emscher-Umbau.
1992 Erster Spatenstich für den Abwasserkanal am Deininghauser Bach in Castrop-Rauxel, kurze Zeit später im Februar 1992: Erster Spatenstich für die neue Kläranlage Bottrop, die 1996 den Betrieb aufnimmt.
2008
Planfeststellung für den Abwasserkanal Emscher (AKE).
2009 Erster Spatenstich für den AKE und die Pumpwerke Gelsenkirchen und Bottrop. Die Veranstaltung war am 11. September 2009 in Gelsenkirchen.
2012 Erstes Kanalrohr für den AKE wird verlegt.
2014 Start der Verlegung der Emscher-Mündung in Dinslaken um 700 Meter nach Norden.
2016 Erster Spatenstich für das Pumpwerk Oberhausen.
2017 Abschluss der unterirdischen Vortriebsarbeiten für den AKE.
2018 Teil-Inbetriebnahme des AKE von Dortmund bis Bottrop inklusive der beiden Pumpwerke Gelsenkirchen und Bottrop.
2020 Richtfest fürs Pumpwerk Oberhausen, 2021 Inbetriebnahme.
31.12.2021: Die Emscher ist komplett abwasserfrei!

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