Gelsenkirchen. Willy und Solveig Krause mussten wegen der Flut ihre Wohnung in Bad Neuenahr aufgeben. Doch in Gelsenkirchen stehen sie vor Bürokratie-Hürden.

„So knapp stand das Wasser schon unter unserem Balkon“, erinnert sich der 90-Jährige und breitet die Arme etwa 30 Zentimeter weit auseinander. Der frühere Fremdenlegionär Willy Krause hat in seinem Leben schon einiges erlebt, aber die Hochwasserkatastrophe Mitte Juli übertrifft alles, sagt er. Die Freude, die Flut überlebt und in Gelsenkirchen bei Enkelin Maribel Lobo da Silva und ihrer Familie ein neues Zuhause gefunden zu haben, werde aber getrübt von „einer würdelosen Behandlung durch die Stadtverwaltung Gelsenkirchen“, berichtet Willy Krause von bürokratischen Hürden, die er nicht überwinden könne.

Zusammen mit seiner bettlägerigen Frau Solveig (85) hat Krause bis vor einigen Monaten noch in Bad Neuenahr-Ahrweiler gelebt, ehe die Wassermassen so vieles mitgerissen und zerstört haben. Wasser, Schlamm und Dreck spülten den Kleinwagen von Willy Krause mit und spuckten ihn erst zwei Kilometer weiter völlig demoliert wieder aus. Die Kellerräume in dem Achtfamilienhaus, in dem die Krauses lebten, liefen voll, Strom-, Gas- und Wasserleitungen wurden zerstört.

Flutkatastrophe im Ahrtal – Abgeschnitten von der Außenwelt

Drei Tage lang ist kein Durchkommen zu dem betagten Paar. Enkelin Maribel und ihr Mann Tom Casper können nur übers Handy seelischen Beistand leisten – das immerhin funktioniert noch.

„Auch der Pflegedienst kam ja nicht zu uns durch. Aber wir hatten noch ein paar Lebensmittel vorrätig, so konnte ich uns über die Tage bringen“, berichtet der gebürtige Oberhausener Willy Krause. Solveig Krause liegt derweil in einem elektrisch betriebenen Bett, damit sich die pflegebedürftige Frau nicht wund liegt. Ohne Strom passiert aber genau das. Erst als das Wasser auf den Straßen wieder so weit zurückgeflossen ist, dass die Rettungskräfte zu den Krauses durchkommen, kann Solveig mit einem Krankentransporter in ein Krankenhaus gebracht werden.

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Wilhelm Krause ist mit seiner Frau bei seinen Enkeln Maribel Lobo da Silva und Tom Caspar in Ückendorf untergekommen.
Wilhelm Krause ist mit seiner Frau bei seinen Enkeln Maribel Lobo da Silva und Tom Caspar in Ückendorf untergekommen. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

„Ich wusste gleich, dass wir hier nicht mehr leben können“, sagt Willy Krause. Wie hätten sie auch? Die Nahversorgung war im wahrsten Sinne des Wortes weggespült, Strom-, Gas- und Wasserleitungen zerstört. „Das war kein Ort mehr, an dem ein hochbetagtes, in Teilen pflegebedürftiges Paar hätte leben können“, sagt Maribel Lobo da Silva, die die Flutkatastrophe selbst miterlebt hat.

Den steigenden Wassermaßen noch rechtzeitig entkommen

Die 41-Jährige hatte im Juli für sich und ihren kleinen Sohn für ein paar Tage in der Gegend von Bad Neuenahr ein Ferienzimmer gemietet. Da sie noch stillt, war sie gegen Mitternacht wach, als plötzlich ein Fremder gegen ihre Tür klopfte, um sie vor dem schnell steigenden Wasser zu warnen. Im Handumdrehen hatte die Lehrerin Sohn und Tasche ins Auto geladen, dessen Reifen schon zur Hälfte unter Wasser standen. Sie fuhr in höher gelegene Gebiete, weg vom Fluss. Für ihre Großeltern konnte sie da schon nichts mehr tun. „Bei uns stand das Wasser schon meterhoch auf den Straßen“, so Willy Krause.

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Ehemann Tom Caspar versuchte derweil, irgendwie aus Gelsenkirchen bis zu der Anhöhe zu kommen, auf der seine Frau und sein Sohn im Auto ausharrten. „Die A 61 war unterspült und gesperrt. Ich habe stundenlang über Umwege versucht, in die Nähe von Bad Neuenahr zu gelangen, bin Rettungskräften hinterhergefahren, aber auch die konnten natürlich nicht wissen, wo es ein Durchkommen gibt.“

Fünf statt der üblichen etwa anderthalb Stunden braucht Tom Caspar in dieser Nacht, bis er im Ahrtal ankommt, bis er seinen kleinen Sohn und seine Frau in den Arm nehmen kann. Es ist eine Achterbahn der Gefühle. Der 46-Jährige ist heilfroh, dass seine Familie unbeschadet davongekommen ist, und gleichzeitig offenbart sich ihm mit der aufgehenden Sonne ein Bild der Verwüstung und Zerstörung, „wie ich es mir nicht einmal hätte ausmalen können“, so der Gelsenkirchener.

Schlechte Erfahrungen mit dem Gelsenkirchener Bürgercenter gemacht

Als einige Tage später klar ist, dass Willy und Solveig hier nicht bleiben können, räumen Maribel und Tom ihr Arbeitszimmer um zu einem Schlafzimmer und holen die Großeltern zu sich nach Ückendorf. Hier will das betagte Paar nun bleiben, „weil wir uns hier eigentlich wohlfühlen“. „Eigentlich“, denn seine Erfahrungen mit der hiesigen Stadtverwaltung sind bisher alles als andere wohlig.

„Meine Frau und ich haben schon seit Jahrzehnten gemeinsame Konten. Um bei der Sparkasse Gelsenkirchen nun eines eröffnen zu können, müssen wir unsere Personalausweise vorzeigen. Da der meiner Frau aber abgelaufen ist und wir schon umgemeldet sind, wollte ich im Bürgercenter im Hans-Sachs-Haus einen neuen Personalausweis beantragen – vergeblich“, berichtet Willy Krause.

Nur noch etwa so viel habe gefehlt, bis das Hochwasser auch den Balkon der Krauses erreicht hätte.
Nur noch etwa so viel habe gefehlt, bis das Hochwasser auch den Balkon der Krauses erreicht hätte. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Denn im Bürgercenter habe man dem 90-Jährigen gesagt, dass er seine Frau schon herbringen müsse, wenn sie einen Ausweis möchte. Fassungslos fragten Krause und Enkel Tom Caspar, ob sie die 85-jährige Solveig samt Pflegebett allen Ernstes ins Rathaus bringen sollten, ob es keinen anderen Weg gibt, einen Außendienst, Online-Anträge oder eine andere Lösung?

„Fassungslos und enttäuscht von unserer Stadt“

„Statt einer lösungsorientierten Option wurden wir in einem abwertenden Tonfall gefragt, ob eine so alte Frau denn noch wirklich einen Ausweis und ein Bankkonto benötige. Wegen Corona jedenfalls gebe es keinen Außendienst. Man könne nichts für uns tun“, wiederholt Tom Caspar, vor welche „absurden Hürden“ das alte Paar in Gelsenkirchen gestellt werde, das nach einer historischen Katastrophe in der Emscherstadt heimisch geworden ist. „Wir sind fassungslos“ sagt Maribel. „Fassungslos und enttäuscht von unserer Stadt“.

Die Stadt wiederum erklärt auf WAZ-Nachfrage, dass in „absoluten Ausnahmefällen, wenn ärztlich bescheinigt ist, dass der Antragsteller nicht das Haus verlassen kann, und der Personalausweis wirklich dringend benötigt wird, ein städtischer Mitarbeiter zu der bettlägerigen Person nach Hause kommt und einen vorläufigen Ausweis ausstellt, mit dem beispielsweise ein Bankkonto eröffnet werden kann.“ Warum das im Fall der Krauses nicht angeboten wurde, konnte ein Sprecher der Stadt nicht beantworten, weil der Fall bisher nicht bekannt gewesen sei.

Möglicherweise kann diese Hürde nun aus dem Weg geräumt werden, so dass die Krauses in Gelsenkirchen ihren Lebensabend genießen können, ohne sich hier schlecht behandelt zu fühlen.

Edit, 9. Dezember 2021: Zwei Tage nach dem dieser Bericht erschien ist Solveig Krause am 8. Dezember gestorben.