Gelsenkirchen. Wie profitiert das arme Gelsenkirchen von den FDP-Steuerplänen – und warum auch der Jacht-Besitzer? Direktkandidat Marco Buschmann im Interview.

Wenn Marco Buschmann mit Politikkollegen aus wohlhabenderen Kommunen – aus „pittoresken Boomtowns“, wie er es selbst formuliert – zusammensitzt, dann bekommt er oft diese eine Frage gestellt: Wie – es gibt FDP-Bundestagsabgeordnete aus dem armen Gelsenkirchen? Der 44-jährige, derzeitige parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, findet durchaus Gefallen an der Verwunderung. Dass der Jurist und liberale Direktkandidat nicht aus einem sorgenlosen Wahlkreis mit FDP-Kernklientel kommt, helfe ihm dabei, Probleme anzupacken, sagt er. Welche sind aus seiner Sicht die drängendsten? Einige Antworten:

Frage: Herr Buschmann, wie hoch ist der Spitzensteuersatz in Deutschland?

Marco Buschmann: Der Spitzensteuersatz beträgt 42 Prozent, plus drei Prozent sogenannte Reichensteuer ab einem besonders hohen Einkommen.

Ihr Parteichef Christian Lindner sagte neulich, dass der Spitzensteuersatz in Deutschland eigentlich rund 80 Prozent betrage – nämlich bei Minijobbern mit Hartz-IV-Bezug, also zum Beispiel bei alleinerziehenden Müttern mit 450-Euro-Job. In Gelsenkirchen gibt es viele solcher Menschen. Wie viel von ihrem Geld können diese Menschen behalten, wenn es nach der FDP geht?

Uns geht es darum, dass wir alle Menschen entlasten, damit sich Anstrengung lohnt. Die aktuellen Regeln belohnen etwa zu wenig, wenn sich jemand durch eigene Arbeit aus der Abhängigkeit von Hartz IV herausarbeiten möchte. Deshalb wollen wir bessere Hinzuverdienstregeln beim ALG II. Wenn man heute 300 Euro dazuverdient, dann hat man über 50 Prozent Abzüge. Das ist kein ermutigender Sozialstaat. Entscheidend ist aber, dass Menschen Jobs finden und diese Jobs auch gut bezahlt sind. Das gelingt nur mit Wachstum. Daher sollten wir die Unternehmen nicht stärker belasten und uns stärker von Bürokratie befreien.

Dr. Marco Buschmann, hier beim Sommerempfang der FDP, will bessere Aufstiegschancen: „Bei uns braucht es ungefähr sechs Generationen, um sich aus prekären Verhältnissen in die Mittelschicht hochzuarbeiten. Das ist ein Skandal.“
Dr. Marco Buschmann, hier beim Sommerempfang der FDP, will bessere Aufstiegschancen: „Bei uns braucht es ungefähr sechs Generationen, um sich aus prekären Verhältnissen in die Mittelschicht hochzuarbeiten. Das ist ein Skandal.“ © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Also würde die besagte alleinerziehende Mutter bei Ihnen nicht mehr den Spitzensteuersatz zahlen?

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat alle Parteiprogramme durchgerechnet und kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die FDP auch die niedrigsten Einkommensgruppen am stärksten entlastet. Davon profitiert auch die alleinerziehende Mutter. [Lesen Sie auch: Eine Mutter berichtet: Corona, Hartz-IV und wohnungslos]

Zur vollständigen Wahrheit gehört, dass Sie auch diejenigen mit den höchsten Einkommen am meisten entlasten wollen.

Wenn man über den Spitzensteuersatz in Deutschland spricht, spricht man ja nicht über Superreiche. Heute werden Menschen mit dem Spitzensteuersatz belastet, die etwas mehr als das Durchschnittseinkommen verdienen, zum Beispiel Facharbeiter, die den IG-Metall-Tarif beziehen. Wir sagen deshalb, dass der Spitzensteuersatz erst ab einem Einkommen von über 90.000 Euro greifen soll.

Aber warum muss man auch die Menschen mit Drittvilla und Zweitjacht entlasten?

Wir wollen alle Bürgerinnen und Bürger spürbar entlasten, die arbeiten gehen und etwas erwirtschaften. Das ist die Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung unseres Landes, das ist ein wichtiger Punkt auf unserer Agenda für mehr Wachstum. Denn man darf nicht vergessen, dass es bei den höheren Einkommen häufig um Betriebseinkommen geht. Wenn der Handwerksmeister mit seinem Betrieb und seinen drei Gesellen einen gewissen Gewinn erwirtschaftet und den versteuern muss, dann fehlt das Geld eben auch an anderer Stelle, vielleicht um selbst fürs Alter vorzusorgen. Wir wollen aber vor allem die Mitte entlasten. Und das ist dringend nötig. Denn mittlerweile sind wir Weltmeister bei Steuern und Abgaben. Man kann nicht häufig genug sagen, dass nirgendwo auf der Welt normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so viel Steuern und Abgaben bezahlen wie in Deutschland. Das muss sich ändern.

Kommunen finanzieren sich zu einem erheblichen Teil über die Gewerbesteuer, die in Gelsenkirchen in Corona-Zeiten stark eingebrochen ist. Sie wollen die Finanzierung der Kommunen auf eine neue Grundlage stellen und die Gewerbesteuer streichen. Wie soll sich eine Stadt wie Gelsenkirchen zukünftig finanzieren?

Die Stadt hat laufende Ausgaben – für den Unterhalt von Gebäuden, Straßen, Sozialleistungen, Bibliotheken und mehr. Das sind Ausgaben, die sich kaum verändern; die Gewerbesteuer dagegen ist konjunkturanfällig, also schwankend – mal sind die Einnahmen hoch, mal niedrig so wie in der Corona-Zeit. Das passt nicht zusammen. Deswegen wäre es klüger, den Kommunen eine stabile Einnahmequelle zu geben. Das könnte beispielsweise ein Anteil vom Einkommensteueraufkommen sein, möglicherweise mit einem kommunalen Hebesatz.

Attraktiver Listenplatz

Dr. Marco Buschmann war erstmals von 2009 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. 2009 erhielt er in Gelsenkirchen als Direktkandidat 7 Prozent der Erststimmen und konnte über die Landesliste ins Parlament einziehen.

2013 wurde die FDP dann aus dem Bundestag gewählt, Buschmann erhielt bei der Wahl in diesem Jahr lediglich 1,7 Prozent. Bei der Erneuerung der Partei wirkte der Gelsenkirchener aber folgend zentral mit – von 2014 bis 2017 unter anderem als Bundesgeschäftsführer.

2017 kehrte Buschmann in den Bundestag über einen guten Platz auf der FDP-Landesliste zurück. In Gelsenkirchen erhielt er damals 6,5 der Erstimmen. 2021 wird er voraussichtlich wieder in den Bundestag zurückkehren können: Buschmann steht in der Landesliste auf Platz 4

In Leverkusen lockt man Firmen mit einer niedrigen Gewerbesteuer. Ist das eine Form von Wettbewerb nach FDP-Geschmack? [Lesen Sie auch: Leverkusen lockt Firmen – Revier spricht von „Kannibalismus“]

Der Gewerbesteuer-Hebesatz ist für viele Unternehmer gar nicht das Entscheidende. Junge Start-ups in Gelsenkirchen werden spätestens in der zweiten Finanzierungsrunde gefragt: Warum seid ihr nicht in einer der klassischen Start-up-Städte oder überhaupt in Deutschland? Deswegen muss man sich überlegen, was man diesen Gründern bieten kann. Wir müssen aufhören, Jammer-Lieder zu singen. Vielmehr sollte man aus scheinbaren Schwächen besser Stärken machen. Sagen wir den Start-ups, dass in Gelsenkirchen die Mieten, Pachten und Lebenshaltungskosten niedriger sind als in anderen Ballungsgebieten. In der Szene würde man sagen: Nirgendwo ist die „Cash Burn Rate“ niedriger als in Gelsenkirchen, nirgendwo könntest du mit 200.000 Euro Risikokapital länger durchhalten.

Welcher Slogan könnte sowas auf den Punkt bringen?

Spontan würde ich sagen: Familienstadt Gelsenkirchen. Denn was die Start-ups vor allem brauchen, sind qualifizierte und motivierte Menschen. Die haben Familie oder wünschen sich eine. Wenn junge Leute vom Eigenheim träumen, ist das in Düsseldorf oder Köln für viele nicht mehr möglich – hier aber noch erschwinglich. Dann muss natürlich das Drumherum passen: Kitas, Schulen, Lebensqualität. Aber da haben wir ja auch etwas vorzuweisen: Die Evangelische Gesamtschule war zum Beispiel für den Deutschen Schulpreis nominiert. Wir müssen nur auch mal versuchen, mit unseren Stärken zu strahlen – und sollten Gelsenkirchen nicht immer nur als Elendsgebiet darstellen.

Bildung ist in der FDP-Kampagne wieder ein Kernthema. Das von Ihrer Parteikollegin Yvonne Gebauer geführte NRW-Bildungsministerium ist da keine besonders gute Werbung für Sie, oder? Viele Eltern sind besonders verärgert über das bisherige Corona-Management. [Lesen Sie auch: Note 4 minus: Umfrage-Klatsche für NRW-Schulministerin]

Yvonne Gebauer hat eine Reihe klarer Grundsätze. Dazu gehört, dass Bildung auch unter schwierigen Verhältnissen Aufstiegschancen gewährleistet. Von dem Talentschulen-Programm hat Gelsenkirchen gleich mehrfach profitiert. Und auch in der Corona-Zeit hat sie mutige Entscheidungen getroffen, indem sie die Schulen so lang wie möglich offengehalten hat. Gerade in Familien mit schwierigen Verhältnissen konnte man den Unterricht nicht digital kompensieren. Dass in so einer Krise auf der anderen Seite nicht immer alles nach Plan geht, das gestehen wir ja auch der Bundesregierung zu.

Es braucht also ein „Aufstiegsministerium“, so wie Sie es neulich auf Twitter vorgeschlagen haben?

Ich hätte nichts dagegen. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wir haben aber eine soziale Aufstiegsmobilität wie Argentinien. Das heißt: Bei uns braucht es ungefähr sechs Generationen, um sich aus prekären Verhältnissen in die Mittelschicht hochzuarbeiten. Das ist ein Skandal. So ein Programm wie die Talentscouts, die in Gelsenkirchen und anderen Städten sozial benachteiligte, aber hochmotivierte Schülerinnen und Schülern gezielt fördern, bräuchte es überall. Ermutigung ist der Schlüssel. Ein Beispiel: Hans-Dietrich Genscher bekam als junger Mann Tuberkulose. Da sagte man ihm: Du wirst es ab jetzt schwieriger haben als andere im Leben. Aber wenn etwas schiefläuft, darfst du es nicht auf die Tuberkulose schieben. Du musst Verantwortung für dich selbst übernehmen – und dieser Mann hat alles erreicht, was man erreichen kann. Nicht jeder wird ein zweiter Genscher werden. Aber alle können ein selbstbestimmtes Leben führen, das man durch eigene Leistung verbessern kann.

Marco Buschmann holt „seinen Chef“ Christian Lindner, der Finanzminister werden möchte, auf die Bühne beim Sommerempfang der Gelsenkirchener FDP im August. „Lindner hat das Finanzministerium nicht deshalb in den Vordergrund gerückt, weil es ihm um Karriereoptionen geht“, meint Buschmann.
Marco Buschmann holt „seinen Chef“ Christian Lindner, der Finanzminister werden möchte, auf die Bühne beim Sommerempfang der Gelsenkirchener FDP im August. „Lindner hat das Finanzministerium nicht deshalb in den Vordergrund gerückt, weil es ihm um Karriereoptionen geht“, meint Buschmann. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

FDP-Chef Lindner will Finanzminister werden. Welches Amt würde man besetzen, wenn man Marco Buschmann wählt? [Lesen Sie auch: Gelsenkirchener FDP feiert Christian Lindner wie Popstar]

Christian Lindner hat das Finanzministerium nicht deshalb in den Vordergrund gerückt, weil es ihm um Karriereoptionen geht, sondern weil er mehr über die unterschiedlichen Konzepte der Finanzpolitik unter den Parteien sprechen wollte. Ich persönlich habe in guten und in schlechten Zeiten für die FDP immer dort angepackt, wo ich etwas für die Idee der politischen Freiheit bewirken konnte. Wo das in Zukunft sein wird, werden wir sehen. Jetzt entscheiden erst einmal die Wählerinnen und Wähler, wie stark die FDP wird.

Die Ministerien werden in der Regel nach Proporz verteilt. Sollte Lindner Finanzminister werden, hätte jemand wie Sie – ebenfalls ein liberaler Mann aus NRW – schlechte Chancen.

Wozu das führt, wenn man Ministerien nur nach Quoten besetzt, sehen wir in der aktuellen Regierung. Heiko Maas ist nur Außenminister, weil Martin Schulz nicht durfte, Horst Seehofer ist nur Innenminister, um Angela Merkel zu quälen, und Annegret Kramp-Karrenbauer nur Verteidigungsministerin, weil Jens Spahn es nicht werden sollte. In all diesen Themenbereichen sind wir in krisenhafte Situationen gekommen. Die Wählerinnen und Wähler erwarten deshalb zurecht, dass die Ministerien künftig von Menschen geführt werden, die den Aufgaben fachlich und charakterlich gewachsen sind.

Angesichts der Katastrophe in Afghanistan wurde erneut darüber diskutiert, ob Gelsenkirchen mehr Geflüchtete aufnehmen soll als der Stadt zugewiesen werden sollen. Oberbürgermeisterin Karin Welge sieht das kritisch und verweist auf die doppelten Integrationsherausforderungen in Gelsenkirchen. Und Sie?

Man muss in der Tat anerkennen und berücksichtigen, dass Gelsenkirchen schon jetzt sehr hohe Integrationsleistungen schultert, insbesondere aus der EU-Binnenmigration.

Ist es redlich, die beiden Themen EU-Südost-Migration und Kriegsflüchtlinge miteinander zu verknüpfen? [Lesen Sie auch unsere Kommentare zu der Debatte: Afghanen nach Gelsenkirchen? OB Welge entscheidet richtig / Gelsenkirchen sollte mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen]

Es ist gesunder Menschenverstand. Wir haben aus Afghanistan bislang etwa 5.000 Menschen evakuieren können, wir haben damit gerechnet, dass es etwa 10.000 werden – darunter sind Ortskräfte plus Familienangehörige. Da kann mir keiner erzählen, dass Versorgung und Integration in dieser Größenordnung damit steht und fällt, ob wir diese Menschen gerade in Gelsenkirchen oder Duisburg-Marxloh unterbringen. Für die Integration ist das doch sogar viel förderlicher, wenn die Menschen woanders aufgenommen werden. Das Klima ist doch dort viel entspannter, wo man nicht bereits an der Kapazitätsgrenze agiert.