Gelsenkirchen. Die fünf Bezirksbürgermeister Gelsenkirchens schlagen im WAZ-Gespräch Alarm und sehen den sozialen Frieden in Gefahr. Das XXL-Interview.
„Die WAZ-Berichterstattung der letzten Tage zu den Integrationsproblemen der Zuwanderer aus den EU-Südoststaaten lassen mir keine Ruhe. Zwischenzeitlich bin ich selbst betroffener Anwohner solcher Nachbarschaft und erlebe den geschilderten Dauerärger am eigenen Leib. Meine Meinung dazu: Einige Menschen bulgarischer und rumänischer Herkunft sind integrationsresistent. Da wo sich diese Menschen aufhalten, sind Müll, Ungeziefer, Lärm bis in die späte Nacht und Bedrohungen an der Tagesordnung.“ Mit diesen klaren und eindrücklichen Worten meldet sich der Bezirksbürgermeister für den Gelsenkirchener Süden, Thomas Fath, an die WAZ und bringt seine größten Sorgen zum Ausdruck: „Ganz Gelsenkirchen schaut machtlos zu, wie unsere Stadt den Bach runter geht.“
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Fath sagt, „Gesprächstermine der Bezirksbürgermeister mit der Polizeipräsidentin wurden insgesamt vier Mal coronabedingt von der Polizeipräsidentin abgesagt. Seitdem haben wir nichts mehr davon gehört.“ Auf Nachfrage bestätigt ein Polizeisprecher, dass Termine abgesagt werden mussten und dass ein Gespräch mit den Bezirksbürgermeistern, die die Sorgen und Nöte in den Quartieren mit am besten kennen, im Spätsommer oder Herbst nachgeholt werden soll.
Derweil meinen die Bezirksbürgermeister, dass ihre Geduld längst überstrapaziert wird – auch vonseiten der Polizei und der Verwaltung. Dazu später im Text mehr.
„Es ist für mich unvorstellbar, dass diese Art von EU-Freizügigkeit Bestand haben kann. Welchem Wähler soll ich das im kommenden Wahlkampf an den Infoständen meiner Partei, der SPD, erklären?“, fragt sich Fath und erhält dabei Unterstützung seiner vier Bezirksbürgermeister-Kollegen.
Gelsenkirchener Bezirksbürgermeister (alle SPD) im WAZ-Gespräch
Das Quintett ist zu Gast bei der WAZ, weil aus Sicht der ehrenamtlichen Bürgermeister „einiges gewaltig schief läuft in Gelsenkirchen, was offen angesprochen werden muss.“ [Lesen Sie auch:Frank Baranowski: „Ich kam mir vor, wie ein Bittsteller]
Fath: „Für Gelsenkirchen bedeutet die sogenannte Arbeitnehmer-Freizügigkeit weiteren Abstieg, weitere soziale Verwerfungen und eine fortgesetzte Spaltung der Gesellschaft. Die Gefahr für unsere Demokratie wird in Brüssel, Berlin und Düsseldorf ignoriert. Ich selbst bin dabei, das Vertrauen in unsere gewählten Politiker zu verlieren. Sie bewirken nichts. Nicht in Brüssel und Straßburg, nicht in Berlin und nicht in Düsseldorf.“
Ähnlich wie schon Oberbürgermeisterin Karin Welge vor einigen Tagen auf Nachfrage der WAZ erklärte, dass die „Vorschriften und Gesetze nachjustiert und den betroffenen Kommunen auch operative Unterstützung gewährleistet werden muss“, fordert auch Bezirksbürgermeister Fath, „dass ganz dringend und unverzüglich bestehende Gesetze geändert werden müssen, um dieser Art Zuwanderung und den Immobilienhaien den Geldhahn zuzudrehen.“
„Was wir zurzeit erleben ist Staatsversagen und Kontrollverlust“
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Doch Fath geht in seiner Einschätzung der gegenwärtigen Lage noch wesentlich weiter: „Der Kampf gegen Schrottimmobilien reicht nicht aus. Ein paar Handgriffe und der Mindeststandard für eine Wohnnutzung ist wieder erreicht. Dank unzureichender staatlicher Eingriffsmöglichkeiten. Ich sehe die Zukunft Gelsenkirchens in Gefahr, sollte es uns nicht gelingen, die gewohnte Ordnung wieder herzustellen. Was wir zurzeit erleben, ist Staatsversagen und Kontrollverlust. Beides ein Nährboden für das Anwachsen demokratiefeindlicher Tendenzen“.
Ähnliches berichten auch Joachim Gill (Bezirk West), Marion Thielert (Bezirk Mitte), Wilfried Heidl (Bezirk Ost), und Dominic Schneider (Bezirk Nord) – alle SPD. „In Horst rufen die meisten Menschen schon oft gar nicht mehr die Polizei, wenn es mal wieder Ärger an der Rüttgergasse oder der Markenstraße gibt. Denn die Beamten kommen entweder nicht oder erst viel zu spät“, erhebt Joachim Gill schwere Vorwürfe „gegen die chronisch unterbesetzte Polizei“, wie er sagt, und räumt ein, dass daran auch die ehemalige SPD-geführte Landesregierung nicht unschuldig sei.
„Polizei kommt oft nicht oder zu spät nach Horst“
Dass der Horster Unternehmer und Geschäftsführer der Grabstätte Schalker Fan-Feld, Ender Ulupinar, nicht mehr dem dortigen Präventionsrat vorsitzen wollte, kann der Bezirksbürgermeister nach eigener Aussage gut nachvollziehen. „Die Bürger werden von der Stadtverwaltung und der Polizei einfach oftmals nicht ernst genommen. Das ist frustrierend“, schildert Gill seine Erfahrungen. Marion Thielert und Thomas Fath stimmen ihrem Kollegen nicht nur zu, die erfahrene Bezirksbürgermeisterin aus Gelsenkirchen-Mitte berichtet von „vielen, vielen Fällen“, in denen auch sie und ihre Amtskollegen sich von der Stadtverwaltung nicht ernst genommen fühlen. „Dabei sind wir häufig die letzte Hoffnung für die Leute, die zuvor von der Stadt einfach abgebügelt oder ignoriert wurden“, so Thielert.
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Das Quintett betont, dass es sich gerne kümmert und auch weiterhin gerne für die Belange der Menschen in den Quartieren kämpfen will, „aber wir werden – auch von unserer eigenen Partei – an den Rand gestellt“, sagt Fath.
Der 67-Jährige berichtet von Nazi-Vorwürfen, die die Jugendorganisation der SPD (Jusos) gegen seinen Ortsverein in Rotthausen erhoben habe, weil Fath und seine Mitstreiter wollten, dass die SPD eine strengere Haltung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU einnimmt. „Im Kern ging es darum, dass uns jeder willkommen ist, der nachweisen kann, dass er eine Arbeit hat, von der er leben kann, und dass er die deutsche Sprache beherrscht. Dazu stehe ich bis heute“, sagt Fath, „auch wenn sie mich dafür als Nazi beschimpfen“.
Lob und Kritik für Kommunalen Ordnungsdienst
„Die Leute sind es leid“, sagt auch Wilfried Heidl, der zwar von „vergleichsweise gesitteten Verhältnissen im Osten der Stadt“ spricht, aber ebenso wie seine Kollegen von Gelsenkirchenern zu berichten weiß, die bereits die Flucht angetreten hätten und „die ihren eigenen Stadtteil oder ihre Stadt verlassen haben, weil sie nicht mehr in Frieden und in Ruhe leben konnten.“
„Das wollen wir nicht hinnehmen“, sagt Dominic Schneider, der einerseits den Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) für seine engagierte Arbeit und die gute Kommunikation lobt, aber auch darauf hinweist, dass es zu selten Kontrollen gäbe und sich mit den geltenden Gesetzen „auch keine langfristigen Lösungen für unsere Probleme abzeichnen.“ Schneider unterstreicht auch, dass er die zahlreichen Stadterneuerungsprogramme „sehr gut findet“, es aber sehr bedauert, dass die Bemühungen „oft durch fragwürdige Personen konterkariert werden, die Schrottimmobilien aufkaufen, dort unwürdigen Wohnraum anbieten, schnelles Geld machen und dann wieder verschwinden.“
Ganz so gut weg kommt der KOD bei den Bezirksbürgermeistern aber nicht durchgehend. Joachim Gill wirft den Ordnungskräften vor, sich nicht einzumischen, wenn Verstöße „eines bestimmten Klientels“ angezeigt oder gesehen würden. „Die trauen sich doch gar nicht, denen was zu sagen, weil sie sich fürchten, selber Stress zu bekommen“, sagt Gill und berichtet von „vielen Beispielen aus Horst, wenn etwa vor den Augen des KOD in zweiter Reihe geparkt wird (Schneider: „die Gelsenkirchener Parktaste - Warnblinklicht und zweite Reihe“) oder Männergruppen keine Masken getragen haben. Die Oma, die allein über die Straße läuft und keine Maske trägt, die haben sie dann ermahnt“, echauffiert sich Gill.
„Leben in unterschiedlichen Welten“
„Manchmal haben wir das Gefühl, dass die Stadtverwaltung, die Berufspolitiker – auch in Land und Bund – und die einfachen Bürger in verschiedenen Welten leben“, sind sich die fünf Bezirksbürgermeister einig, denen sich die Nackenhaare aufstellen, wenn sie an die Arbeitskreise und Integrationsangebote denken, die aus ihrer Sicht nur Kosmetik sind und weit an einer Problemlösung vorbeigehen.
Froh sind die Bezirksbürgermeister über die Gebietsbeiräte, die aus ihrer Sicht gut funktionieren und in denen die Bürger gut eingebunden würden. Thomas Fath sagt angesichts dieser Mitgestaltungsmöglichkeit in den Stadtteilen deshalb auch: „Ein Europa, wie wir es jetzt haben, eines, das uns vor Ort vorschreiben will, wie wir zu leben haben, das mit seinen Gesetzen so viel Einfluss auf uns hat, uns aber dann mit den Problemen der Arbeitnehmerfreizügigkeit alleine lässt, das brauchen wir nicht. Wir brauchen mehr und nicht weniger Dezentralisierung, mehr Rechte für die Nationalstaaten und letzten Endes für die Kommunen. Es ist schön, wenn wir als Bezirksbürgermeister bei dem einen oder anderen Problem helfen können und der Dank der Bürger ist ein wunderbares Lob, doch für viele Gelsenkirchener droht ihre Stadt zu kippen“, sagt Fath und die anderen Bezirksbürgermeister nicken zustimmend.
Gerade weil es ihnen um Gelsenkirchen geht, haben sich die fünf entschlossen, ihre Nöte mit der Stadtverwaltung, in Teilen mit der Polizei und mitunter mit ihrer eigenen Partei, im WAZ-Gespräch öffentlich zu machen, erklärt das Quintett zum Abschluss des Interviews noch einmal einhellig. „Es geht um unsere Heimat!“