Gelsenkirchen. Die Folgen der Armutszuwanderung aus EU-Ost machen Gelsenkirchen zu schaffen. Ex-OB Frank Baranowski spricht über seine Erfahrungen und Sorgen.

Die Online-Redaktion der Stadt Gelsenkirchen hatte gerade erst Text und Bild zu den Umgestaltungsplänen der Neustadt auf Facebook veröffentlicht, da hagelte es angesichts der vorgeschlagenen Logos, die das Projekt zieren sollen, auch schon Hohn und Kritik.

Tenor: Statt eines Logos und einiger baulicher Aufwertungen (siehe Box) brauche es „Visionen“ wie das Zusammenleben der Menschen aus verschiedenen Kulturen in der Neustadt besser gelingen könne.

Umgestaltung Gelsenkirchen-Neustadt

Mit baulichen, ökologischen und sozialen Maßnahmen soll das Stadterneuerungsgebiet Neustadt in den kommenden Jahren aufgewertet werden, schreibt die Stadt. Beispiele für Maßnahmen aus dem Integrierten Entwicklungskonzept Neustadt sind:

Die beiden Unterführungen ins Quartier (Bokermühlstraße und Wickingstraße) werden künstlerisch gestaltet und durch Lichtelemente beleuchtet.

Es sollen straßenbegleitendes Grün und Grün- und Freiflächen zur Entsiegelung der Oberfläche geschaffen werden.

Auch Eigentümerinnen und Eigentümer sollen möglichst einen Beitrag zur Klimaanpassung leisten, indem sie ihre Hofflächen und Vorgärten entsiegeln und begrünen. Als finanzielle Förderung steht ihnen das städtische Haus- und Hofflächenprogramm zur Verfügung. Auch Kosten einer Fassadenerneuerung können bis zu 50 Prozent gefördert werden. Die Quartiersarchitektin im Stadtteilbüro Neustadt informiert und berät zu Fördermodalitäten und Modernisierungsangelegenheiten.

Sobald die Richtlinien beschlossen sind, wird ein Gebietsbeirat aus Bewohnerinnen und Bewohnern sowie weiteren Akteuren der Neustadt gewählt, die dann über eingereichte Anträge abstimmen.

Zur Stärkung der Nachbarschaft und des Miteinanders werden gemeinsam mit aktiven Institutionen vor Ort Veranstaltungen und Stadtteilfeste, Mit-Mach-Aktionen und kleinteilige Projekte organisiert und unterstützt.

Mit Bezug auf Zuwanderer aus den östlichen EU-Staaten klagen Anwohner dort – wie in einigen Straßen anderer Stadtteile auch – über vermüllte Wege und Höfe, über Lärm und Respektlosigkeiten. „Bitte zuerst hier etwas unternehmen, bevor sowas Unnötiges wie Logos erstellt werden. Nicht das Äußere macht etwas attraktiver, sondern der Inhalt“, formuliert es etwa die Facebook-Nutzerin Jasmin Hyuga und erhält dafür viel Zustimmung.

Auch anderorts in Gelsenkirchen wächst der Unmut zusehens. Ender Ulupinar, Unternehmer, Geschäftsführer der Schalker Fan-Feld GmbH und früherer Leiter des Präventionsrates in Horst, berichtet von „nicht mehr zu ertragenden Zuständen“ an Markenstraße oder etwa an der der Rüttgergasse und weiteren Straßen im Stadtteil. „Es hat überhaupt nichts mit Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus zu tun, aber man muss die Probleme einfach beim Namen benennen. Diese Menschen wollen sich nicht integrieren und darunter leiden vielfach gut integrierte Gelsenkirchener, die mit denen in einen Topf geschmissen werden. Die EU-Ost-Zuwanderer hier verursachen Müll, Dreck, brüllen sich von Haus zu Haus an und versuchen gleich in Mannschaftsstärke einzuschüchtern, wenn man einen von ihnen auf ihr Fehlverhalten anspricht“, beschreibt Ulupinar, was er und seine Nachbarn täglich erleben würden. An die Behörden würden sie sich mit ihren Problemen kaum noch wenden, so der Horster, der indes befürchtet, dass sich die Konfrontationen zwischen Alteingesessenen und Hinzugezogenen weiter zuspitzen könnten.

Ex-OB Frank Baranowski im Gespräch über die Armutszuwanderung nach Gelsenkirchen

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Diese Beispiele machen abermals deutlich, dass die Probleme, die die Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien mit sich gebracht hat, für zahlreiche Gelsenkirchener ein ungelöstes Dauerärgernis darstellen. Nicht selten gerät dabei die Stadtverwaltung für ihre angebliche „Untätigkeit“ in die Kritik. Und obwohl die Stadt mitnichten ihre Hände nur in den Schoß legt, so ist auch in Verwaltung und Politik jedem klar, dass die von Bund und Land gewährten Mittel und Maßnahmen nicht ausreichen, um überall dort, wo Nachbarn seit Jahren über unzumutbare Verhältnisse klagen, langfristige Lösungen zu schaffen.

Einer, der jahrelang leidvolle Erfahrungen damit machtes, mit den Folgen der EU-Südosterweiterung allein gelassen zu werden, ist der frühere OB Frank Baranowski. Wie auch gerade erst mit dem Magazin „HerrKules“ spricht Baranowski mit der WAZ über die Armutszuwanderung in Gelsenkirchen, die die Stadt in den vergangenen Jahren beschäftigt wie kaum ein zweites Thema.

Herr Baranowski, Sie haben zusammen mit weiteren „betroffenen“ Oberbürgermeistern lange dafür geworben, dass Bundes- und Landesmittel für die Folgeerscheinungen der Armutszuwanderung in die Städte fließen. Wie bewerten Sie rückblickend die Unterstützung für die Kommunen?

Baranowski: Mit Ausnahme eines kurzen Zeitfensters, als dieses Thema in Düsseldorf bei der damaligen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft „Chefinnen-Sache“ war und in Berlin der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel sich persönlich gekümmert hat, habe ich hier eher einen Verschiebebahnhof wahrgenommen. Brüssel hat auf Berlin verwiesen, Berlin auf Brüssel und Düsseldorf und in Düsseldorf wurde dann wieder auf Berlin und Brüssel verwiesen. Manchmal kam ich mir vor wie ein Bittsteller. Dabei habe ich noch gut eine Äußerung eines Staatssekretärs aus einem Bundesministerium im Ohr: „Unser Rechtssystem ist für solche Herausforderungen nicht geschaffen“. Es hat allein schon viele Monate gedauert, um überhaupt ein Problembewusstsein bei den Entscheidungsträgern zu schaffen.

Die Landesregierung verweist auf WAZ-Anfrage darauf, dass es nun neuerdings ein Wohnraumstärkungsgesetz gibt, damit betroffene Städte Mittel für den Kauf von Schrottimmobilien generieren können, außerdem gebe es ja jetzt auch ganz neu ein Programm, um mit Schulbescheinigungen missbräuchlichen Kindergeldbezug zu verhindern. Darüber hinaus bekomme Gelsenkirchen zwischen 2020 und 2022 fünf Millionen Euro für die Integration von Zuwanderern aus EU-Ost. Reicht das?

Keine Frage, das sind alles richtige Maßnahmen, die von den betroffenen Städten aber auch schon lange gefordert wurden. Allein: Sie dauern zu lange oder reichen bei weitem nicht aus. Wenn allein beim „fälschungssicheren Schulausweis“ vom ersten Vorschlag im Jahr 2018 bis zur jetzigen „Erprobung in drei Kommunen“ ganze drei Jahre vergehen, zeigt dies, wie schwerfällig die Reaktionen sind. Und natürlich ist jeder Euro willkommen, aber diese Beträge reichen hinten und vorne nicht. Es ist ja gut, wenn das Land sich an den Integrationskosten beteiligt, aber es geht ja um viel mehr. Der Kommunale Ordnungsdienst musste mehrfach personell verstärkt werden, Ankauf und Abriss von Schrottimmobilien ist personalintensiv und vor Ort müsste die Quartiersbetreuung ausgeweitet werden. Für alle diese heißen Steine reichen die Tropfen hinten und vorne nicht.

Was schlagen Sie vor?

Eine langjährige Forderung der Städte geht deutlich weiter: Rumänien erhält EU-Mittel zur Integration ethnischer Minderheiten (der Roma in diesem Fall). Rumänien ruft diese Mittel aber bewusst nur in geringem Umfang ab, weil – so ein rumänischer Minister bei einem Besuch dort – sich dieses ethnische Problem durch Auswanderung von alleine löse. Diese durch Rumänien nicht abgerufenen EU-Mittel müssen den von Armutsmigration betroffenen deutschen Städten zur Verfügung gestellt werden. Mit dieser Forderung sind wir immer vor Wände gelaufen. Das Verfahren sei zu kompliziert. Mich interessiert dabei nicht, wie das rechtlich oder verwaltungstechnisch abgebildet werden kann, sondern wie wir eine Lösung schaffen, die dort hilft, wo Herausforderungen auftreten und die EU-Staaten auch für die gemeinsame Sache in die Pflicht nimmt.

Sie machen sich darüber hinaus auch Gedanken, dass Gelsenkirchen überfordert wird. Wie meinen Sie das?

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Zuwanderung – ganz gleich ob aus Armut oder Flucht – darf die Leistungsfähigkeit und die Integrationskraft einer Stadt nicht überfordern. Uns wurden und ich nehme an, werden nach wie vor, auch weiterhin Flüchtlinge zugewiesen. Zusätzlich kommen Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Dabei weiß jeder, auch der Stärkste geht irgendwann in die Knie, wenn ihm zu viel auf die Schultern gepackt wird. Ich bin fest davon überzeugt: Integrationskraft und Integrationsmöglichkeiten in einer Stadt sind nicht unendlich. Leider denkt man in den Regierungszentralen fast ausschließlich in Rechtskreisen und Quotenerfüllung und hat selten die Gesamtfolgen im Blick. Natürlich ist mir als Sozialdemokrat klar, dass es in Deutschland immer Zuwanderung geben wird. Aber wir benötigen eine einheitliche Idee und gerechte Lastenverteilung sowie die dazu passenden Instrumente, wie wir den Menschen wirksame Angebote zur Integration machen, ihnen eine Perspektive geben und sie mit den Pflichten und Erwartungen vertraut machen.

Nimmt man in Düsseldorf und Berlin die Belange und Sorgen der Bürger und Politiker aus Städten wie Gelsenkirchen also einfach nicht ernst? Sind wir zu klein und unwichtig?

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Wie gesagt, es gab ein kleines Zeitfenster, da war dieses Thema Chefsache in Düsseldorf und Berlin. Dann kam die Flüchtlingskrise und das Thema Zuwanderung Südost wurde überlagert. In Berlin kümmert sich niemand mehr intensiv darum, es gibt noch nicht einmal einen klaren Ansprechpartner. Arbeitsministerium und Innenministerium werfen sich die Bälle gegenseitig zu. In Düsseldorf ist das Thema herunterdelegiert worden aus der Staatskanzlei des Ministerpräsidenten ins Städtebauministerium. Und in Brüssel versteht man das Problem gar nicht. Der bei einem Besuch in Brüssel vom damaligen Kommissar Günter Öttinger zugesagte Gesprächstermin zwischen den betroffenen Städten, der Bundesregierung und der EU-Kommission hat nie stattgefunden. Obwohl das Thema für uns in Gelsenkirchen – wie in vielen anderen Städten, nicht nur im Ruhrgebiet, auch – große Bedeutung hat, weil es die Stadt und die Stadtquartiere negativ verändert, scheint es für die Bundes- und Europaebene wohl noch nicht groß genug zu sein.