Gelsenkirchen-Horst. Ratten, defekte Stromleitungen, undichtes Dach: Warum Gelsenkirchen das Haus nicht zwangsräumt. Nachbar sieht Mieter aus Fenster springen.

Über gute Architektur und schönes Design lässt sich streiten, über problematische Wohnbedingungen und erhöhte Brandgefahr nicht: Dass das Mehrfamilienhaus an der Rüttgergasse 4 im Stadtteil Horst viele Kriterien dafür erfüllt, davon ist Ulrich Siebert nach seiner Besichtigung des Gebäudes überzeugt. Die Stadt jedoch sieht auf Nachfrage dieser Redaktion keine „unmittelbare“ Gefahr im Verzug für die zwei dort gemeldeten Familien – freiliegende Stromleitungen, marodes Treppenhaus und Rattenbefall hin oder her.

„Da können doch keine Familien mit Kindern wohnen!“, schoss es Siebert durch den Kopf, als ihn Mitte Juni ein Immobilienmakler durch die Räume führte. Schon seit Jahren interessiert sich der 53-Jährige für einen Kauf des Hauses, das in den vergangenen Jahrzehnten viele Eigentümerwechsel erfuhr. „Das gesamte Gebäude zeigt massive Vandalismus-Spuren, überall liegt Müll, im Erdgeschoss sind Decken einer Wohnung eingestürzt und das Dach ist undicht“, berichtet er.

Nachbar: Weil eine Treppe fehlt, springen die Bewohner aus dem Fenster

Wer über den Innenhof ins Haus an der Rüttgergasse 4 in Gelsenkirchen-Horst gelangen möchte, muss sportlich sein: Die Treppenanlage ist verschwunden; nun dienen Autoreifen als Einstiegshilfe.
Wer über den Innenhof ins Haus an der Rüttgergasse 4 in Gelsenkirchen-Horst gelangen möchte, muss sportlich sein: Die Treppenanlage ist verschwunden; nun dienen Autoreifen als Einstiegshilfe. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Wer das Haus über den Innenhof betreten möchte, der muss schon sehr gelenkig sein, weil keine Treppenanlage mehr existiert und durch aufeinander gestapelte Autoreifen ersetzt ist. Die Bewohner springen auch schon mal aus dem Fenster; den offenen Garagen sollte er sich lieber nicht nähern, sonst springen ihn womöglich Ratten an“, erzählt er von seinen Beobachtungen vom Fenster seines Firmensitzes an der Sandstraße aus, der sich in der Nähe der Immobilie befindet.

+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++

Auch ohne seine Fachkenntnisse als Inhaber eines Sanitär- und Heizungsbetriebs ist ihm klar: Das 1934 errichtete Sechsfamilienhaus auf dem rund 570 Quadratmeter großen Grundstück in Horst-Süd ist unbewohnbar. „Der Kommunale Ordnungsdienst ist informiert und mindestens alle zwei Wochen vor Ort, um nach dem Rechten zu sehen“, sagt er.

Gelsenkirchen: Stadt hat zu wenig Personal für so viele Schrottimmobilien

Warum die städtische Bauaufsicht dort bislang noch nicht tätig geworden ist? „Weil es in Gelsenkirchen sehr viele Schrottimmobilien gibt und wir nur sehr wenige Leute in dieser

Expertenteam für Schrott-Immobilien

Gelsenkirchen gilt im Städtevergleich als besonders engagiert im Kampf gegen Schrott-Immobilien.

Ein so genanntes „Interventionsteam EU-Ost“ etwa geht Hinweisen aus der Bevölkerung nach und sucht als problematisch gemeldete Immobilien auf. Das Team besteht aus Kommunalem Ordnungsdienst (KOD), Baubehörde und Wohnungsaufsicht, Arbeitsverwaltung, Polizei, Stromversorger und Sprachmittlern.

Erst vor einigen Tagen kontrollierte das Team zwei Gebäude im Stadtsüden und listete Meldeversäumnisse, Sozialleistungsbetrug, Ungezieferbefall und Müllablagerungen auf.

Abteilung haben“, so die Antwort von Stadtsprecher Martin Schulmann auf Nachfrage.

Die Bauaufsicht sei schon länger über das Gebäude informiert. Zuletzt habe es der KOD am 22. Juni – also nach der Anfrage dieser Redaktion – aufgesucht und „aufgrund der baulichen Mängel und der Vermüllung“ einen „detaillierten Bericht an die Wohnungsaufsicht verfasst“, „da im Haus zwei Familien leben.“

Verwaltung will für die beiden Familien eine Lösung finden

Auch interessant

Schulmann bestätigt, dass die Stadt das Objekt „wohnungsaufsichtsrechtlich als Problem- bzw. Schrottimmobilie eingestuft“ und Kontakt zum Verwalter aufgenommen habe. Dieser sei über die Zustände informiert und „zur sofortigen Abhilfe aufgefordert“ worden. Die Wohnungsaufsicht bleibe im Gespräch mit ihm, „auch um für die beiden Familien Lösungen zu finden“. Die Familien wohnen indes offenbar noch immer dort.

Wann die Voraussetzungen für eine Zwangsräumung gegeben sind – auf diese Frage antwortete die Stadt in ihrer Stellungnahme nicht. Und warum zwei Einheiten überhaupt noch bewohnt sind, obwohl das Gebäude 1997 laut einem Siebert vorliegenden Gutachten als unbewohnbar eingestuft und wegen statischer Mängel zwangsgeräumt wurde?

1997 wurde Haus wegen Statik zwangsgeräumt – heute gilt es als standsicher

https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/armutsmigration-das-ist-gelsenkirchens-neue-strategie-id231533925.htmlVon der Zwangsräumung „vor dann über 20 Jahren“, so Schulmann, wusste zumindest der Stadtsprecher nichts, verwies aber darauf, dass die Bauaufsicht 2019 mit einem Statiker im Gebäude gewesen und zu dem Ergebnis gekommen sei, „dass die Standsicherheit des Gebäudes aufgrund der vorgefundenen Risse nicht gefährdet ist.“

Zur „aktuellen Beurteilung“ werde es jedoch „in Kürze eine gemeinsame Begehung von Bauordnung und Wohnaufsicht geben“, kündigte er an. Eine Zwangsräumung, so war zu erfahren, stehe derzeit nicht an. Der Eigentümer selbst war für die Redaktion nicht zu sprechen, hat nach Angaben der Stadt jedoch die Wohnungsaufsicht kontaktiert. Dabei „legte er glaubhaft dar, das Objekt sanieren zu wollen.“ Er wolle den beiden Familien „nochmals eine Ersatzunterkunft anbieten“. Und: „Bisher hätten diese einen Umzug abgelehnt“, zitiert die Verwaltung den Eigentümer.