Ruhrgebiet. . Die 302 ist längste Straßenbahnlinie im Revier. Sie führt von Gelsenkirchen-Buer nach Bochum-Langendreer sowie durch Vergangenheit und Zukunft.
Von links oben nach rechts unten – einmal quer durch das Herz des Ruhrgebiets fährt die Straßenbahnlinie 302. Von Gelsenkirchen-Buer Rathaus bis Bochum-Langendreer S-Bahnhof sind es 28,3 Kilometer, damit ist sie die längste Linie im Revier. Für die 53 Haltestellen benötigt sie eine Stunde und 23 Minuten, sofern sie reibungslos durchrollen kann.
Es ist nicht nur eine Fahrt von einer Stadt zur anderen, sondern eine Reise durch Vergangenheit und Zukunft der Region, vorbei an vier traditionsreichen Fußballstadien, ehemaligen Zechen- und Stahlstandorten, historischen Bauwerken und modernen Wissenschaftsbauten. Durch triste Straßen, wo Gardinen in den Fenstern fehlen und Leerstände wie Narben in den Häuserfronten wirken. Dann durch Alleen und schattige Wohnviertel, wo Kinder auf den Straßen spielen.
Haltestelle heißt nicht mehr Werk 1, sondern Mark 51-7
Durchs Fenster lässt sich der Wandel des Ruhrgebiets im Vorbeifahren besichtigen. Mal in bereits vollendeter Form am Beispiel des Wissenschaftsparks Gelsenkirchen, mal noch im Werden, wie beim ehemaligen Opelwerk in Bochum. Wo früher Produktionshallen standen, sieht man derzeit ein großes leeres Areal. Die Haltestelle heißt nicht mehr Werk 1, sondern Mark 51-7. Unter dieser Koordinate sollen hier Wirtschaft und Wissenschaft heimisch werden.
Wer Glück hat, der wird auf der Fahrt von Andreas Halwer begleitet. Der Bochumer Stadtarchivar ist in zweiter Berufung Vorstandsmitglied der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft der Bogestra. Er weiß zum Beispiel, dass die Bahn ab 1895 zwischen Schalke und Gelsenkirchen Hauptbahnhof gebaut wurde, dann weiter nach Ückendorf, Wattenscheid und Bochum. Ursprünglich brauchte die Bahn gar keine Nummer – weil es so wenige Linien gab. Erst 1908 bekam sie einen Namen, da hieß sie „Linie 1“. „Seit 1938 ist es die Linie 2“, solche Sachen weiß Halwer. Auch, dass die Bahn in Gelsenkirchen von Anfang an elektrisch fuhr, während in Dortmund die Gleiswagen noch altmodisch von Pferden gezogen wurden, erzählt Halwer, der bereits ein Buch über die Linie 310 veröffentlicht hat und an einem über die 302 arbeitet. Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde die Strecke ausgebaut, an der Arena entstand eine großzügige Dachkonstruktion mit einer „bläulich schimmernder Verglasung“ – wegen der Vereinsfarbe.
Vorbei am Ernst-Kuzorra-Platz, der legendären Schalker Meile und der Glückauf-Kampfbahn. Kurz hinter der Wattenscheider Stadtgrenze sieht man den Förderturm der Zeche Holland. Und wer weiß, dass die 1933 erbaute Post in Wattenscheid eines der wenigen Gebäude im Bauhausstil im Ruhrgebiet ist? Oder dass während des Krieges auf dem alten jüdischen Friedhof alle Bombentrümmer der Umgebung abgekippt und die historischen Grabstätten zerstört wurden? Jeder Kilometer erzählt Geschichten – bis zur Endstation.
>>> Fünf Stationen auf dem Weg der Linie 302
1. Glückauf-Kampfbahn
Wer einen Blick auf die alte Spielstätte werfen will, muss an der dämmrigen Haltestelle Ernst-Kuzorra-Platz unter der Brücke der A 42 aussteigen. Hier beginnt die legendäre „Schalker Meile“, deren Mythos an spielfreien Tagen hinter den Abgasschwaden und dem Lärm der pausenlos vorbeirauschenden Fahrzeuge auf der Kurt-Schumacher-Straße verborgen scheint. Immerhin sind hier die Leitungsmasten der 302 in Königsblau gestrichen. Die im September 1928 eröffnete Kampfbahn für ursprünglich 34 000 Zuschauer war das erste Stadion des Vereins. Die Kassenhäuschen kamen erst 1950.
2. Musiktheater im Revier
Die Haltestelle Grenzstraße markiert die Grenze zwischen Schalke und Gelsenkirchen. Von dort sind es zwei Haltestellen bis zum Musiktheater im Revier (MiR). Von der beeindruckenden Glasfront erkennt man hinter den Fenstern der 302 aus nicht viel, denn schon taucht die Bahn in den 1984 erbauten Tunnel zum Hauptbahnhof ein. Doch auch im raschen Vorbeigleiten staunt man über den gewagten, festlichen Bau, der mitten in Gelsenkirchen weltstädtisches Flair verströmt. Das 1959 eröffnete Gebäude mit über tausend Plätzen gilt als einer der bedeutendsten Theaterbauten der Nachkriegszeit.
3. Wissenschaftspark
Einst prägten das Thyssen-Gussstahlwerk und der Wetterschacht der Zeche Rheinelbe das Gelände an der Gelsenkirchener Munscheidstraße. 1995 wurde das futuristische, 300 Meter lange Gebäude eröffnet. Der spektakuläre Glasbau soll ein Zeichen setzen für den Strukturwandel – „sanfte Technologien“ wie erneubare Energien ersetzten den harten Takt von Kohle und Stahl. Doch mit dem wuchtigen Thyssen-Verwaltungsgebäude ist ein Zeuge der Vergangenheit noch da und bildet einen baulichen Kontrast zum Wissenschaftszentrum und zum 2015 eröffneten Justizzentrum nebenan mit seiner strengen Fassade.
4. Zeche Holland
Lohrheidestraße heißt die Haltestelle, doch von dem gleichnamigen Stadion in Wattenscheid sieht man nichts. Es liegt hinter dem Gelände der Zeche deren Name in Großbuchstaben an den Förderturm gepinselt ist: Holland. 1969 erreichte sie ihre höchste Förderung – da waren die meisten Schächte schon stillgelegt. Ende der 80er-Jahre kam das Aus. Später wurde der Komplex saniert und wird seither als Wohn-, Gewerbe- und Grünfläche genutzt. Die denkmalgeschützte Lohnhalle wurde in der Zeit der IBA Emscherpark renoviert und dient nun als Veranstaltungs- und Technologiezentrum.
5. Jahrhunderthalle
Die großartige Jahrhunderthalle an der Alleestraße in Bochum kann man als Passagier der 302 nicht sehen, denn hier fährt die Bahn wieder unterirdisch. Doch die Haltestelle Bochumer Verein/Jahrhunderthalle vermittelt durch eine ausgefeilte Beleuchtung einen Eindruck, was in dem einstigen Stahlwerk und dem Kraftwerk in der Jahrhunderthalle geschah: Das Licht der Wände wird in Farben getaucht, die ein Stahlabstich erzeugt. Grün, blau, orange und rot leuchtet der Beton im dramatischen Wechselspiel. Das Stahlwerk ist längst verschwunden, das Kraftwerk aber ist heute eines der Kultur.