Gelsenkirchen. Zeitzeuge Werner Falk (86) und Historikerin Brigitte Schneider über die fünfte Wirtschaftssäule Gelsenkirchens – und deren Niedergang.

In der Nachkriegszeit erlebte die Bekleidungsbranche einen wirtschaftlichen Aufschwung, doch die fünfte Wirtschaftssäule Gelsenkirchens hatte auch ihre Schattenseiten. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende eine Modeunternehmens und spätere Gewerkschaftssekretär im Bereich Textil und Bekleidung, Werner Falk, und die Historikerin sowie stellvertretende VHS-Direktorin Brigitte Schneider berichten im Gespräch mit der WAZ von den Arbeitsbedingungen und dem Niedergang der Branche.

Die 48-Stunden-Woche war Standard

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„Die Näherinnen hatten einen unheimlichen Leistungsdruck. Es war ein Knochenjob“, sagt Falk. Ungelernte Näherinnen und Büglerinnen bildeten die Belegschaft. Eine Arbeitswoche inklusive Samstag, bestand aus 48 Stunden. Wer zu langsam war, musste die Arbeit am Ende des Tages nachholen. Toilettengänge und die Nahrungsaufnahme waren lediglich unter Zeitdruck möglich. Die Kollektionen „Frühjahr-Sommer“ und „Herbst-Winter“ mussten rechtzeitig fertig werden, damit sie auf den Modemessen präsentiert werden konnten. „Im Sommer wurden oft dicke Stoffe zu Mänteln verarbeitet. Genäht wurde in beengten Räumen mit hohen Temperaturen“, sagt Schneider. Die damalige Näherin Ingrid Bohnenkamp etwa war für den Arbeitsschritt der Erstellung von Knopflöchern eingeteilt. Sie berichtete von 60 Hemden, die sie 1954 am Tag zu bearbeiten hatte, bis 1961 steigerte sich das auf 90 Hemden pro Stunde.

Schuften 4,54 D-Mark in der Stunde

Frauen streikten in Gelsenkirchen erst spät für ihre Rechte, dann aber mit ungewöhnlichen Mitteln.
Frauen streikten in Gelsenkirchen erst spät für ihre Rechte, dann aber mit ungewöhnlichen Mitteln. © FOTO: Broschüre 100 Jahre GTB

Die Akkordarbeit und der Lärm in den Hallen durch die ratternden Nähmaschinen, oftmals verstärkt durch Musik aus dem Radio, prägten den Arbeitsalltag. „Damals gab es die Philosophie, dass WDR 4 bei der Arbeit die Näherinnen beflügeln würde, sie dadurch leichter fallen würde“, erinnert sich Falk. Schneider weist auf die schlechte Bezahlung hin und. Aus Geschäftsberichten der Gewerkschaft Textil und Bekleidung geht hervor, dass 1971 der durchschnittliche Bruttolohn in der Branche bei 4,54 D-Mark lag, bundesweit verdienten die Arbeitnehmerinnen 4,85 Mark. Das Gehalt von Männern in Industriebranchen lag bundesweit hingegen bei 7,01 Mark.

Erste Streiks mit Kinderwagen

Kleine Verbesserungen ließen sich erst ab 1961 erkennen. Damals fanden die ersten Streiks in der Bekleidungsindustrie statt. In männerdominierten Industriezweigen waren diese längst keine Seltenheit mehr. Was bei diesen Streiks neu war: Frauen gingen mit Kind und Kinderwagen erstmals auf die Straße, um für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. „Damals hat den Frauen keiner zugetraut, dass sie streiken. Der Druck aus der Basis war aber enorm wichtig“, so Falk. Weil die Arbeitnehmer auf sich aufmerksam machten, erreichten sie zumindest kleine Erfolge, auch wenn die Arbeitgeber drohten, die Produktion ins Ausland zu verlegen. Falk erinnert sich an die Worte eines Arbeitgebers, der sagte: „Wir fahren in den Hafen, wo die Löhne am niedrigsten sind.“

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Abwanderung nach Jugoslawien, Türkei und zuletzt Asien

Den Worten folgten Taten, die den Niedergang der Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen einleiteten. Die Produktion verlegten die Arbeitgeber in den späten 1960ern zunächst aufs Land. In den 1970ern wurde dann für noch kleinere Löhne in Jugoslawien produziert, später in der Türkei und Italien, einzelne Aufträge gingen nach Asien. „Mischkalkulation“ und „passive Lohnveredelung“ waren die Stichwörter im Zusammenhang mit der Produktion einfach gefertigter Modeserien in den Niedriglohnländern. Aufgrund des preislichen Konkurrenzdrucks mussten einige Betriebe schließen.

Steilmann fing viele Betriebe auf

Der große Steilmann-Konzern aus Wattenscheid hatte sich 1958 selbstständig gemacht und später immer wieder Gelsenkirchener Betriebe, die in Schwierigkeiten steckten, aufgekauft und das Personal übernommen. Ende der 70er liefen 25 Betriebe mit 3900 Beschäftigten in ganz Deutschland unter Steilmanns Fittichen. Falk und Schneider lernten Klaus Steilmann persönlich kennen. Sie beschreiben ihn als „hemdsärmeligen, kumpelhaften Typen, der den globalen Zwängen unterlag“. 2004 musste auch er erstmals Konkurs anmelden. „Die wirtschaftliche Situation hat ihn in die Knie gezwungen“, so Falk und fährt fort: „Aber zuvor waren es andere Betriebe, die schleichend Personal abbauten oder in die Insolvenz schlitterten – jedes Mal mit menschlichen Schicksalen verbunden.“ Die Firma Hubert Kogge (Huko) schloss beispielsweise 1975, Krawatten-Bauer 1981 und die Henning & Eckert GmbH 1981. Als letzter Bekleidungsbetrieb ab Gelco Ende 2016 auf.

Bedingungen in der Bekleidungsindustrie weiter im Blick behalten

Geschichte aufgearbeitet

Ende der 1990er Jahre trafen sich bei der VHS Gelsenkirchen ehemalige und aktive Beschäftigte und Gewerkschaftssekretäre mit Historikerinnen, um die Geschichte der fast vergessenen Branche aufzuarbeiten. Entstanden ist 2001 die Publikation „Arbeit an der Mode“ Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet.

Auf Basis der Forschungsarbeiten der Historikerinnen Birgit Beese und Brigitte Schneider entstand auch die gleichnamige Ausstellung, die 2004 im Kulturraum flora gezeigt wurde. Mehrmals wurde auch eine Stadtrundfahrt zu ehemaligen Standorten der Kleiderfabriken in Gelsenkirchen durchgeführt.

Für Falk und Schneider ist die Geschichte der Bekleidungsindustrie bis heute ein wichtiges Thema, das immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden sollte. Schneider erklärt, warum: „Der Großteil der Produktion findet noch immer in den Niedriglohnländern unter schlechten Arbeitsbedingungen statt. Auch wenn die Branche heute schwer durchschaubar ist, ist es wichtig, im Sinne der Umwelt auf die Qualität und Arbeitsbedingungen zu achten.“