Gelsenkirchen. In der prall gefüllten Neuen Synagogen in Gelsenkirchen nutzten mehr als 200 Menschen den doppelten Gedenktag zur Mahnung. Es geht um Würde.
Er ist ein doppelter Gedenktag in Gelsenkirchen, der 27. Januar. An dem Tag wurde im Jahr 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Drei Jahre zuvor, am 27. Januar 1942 jedoch wurden 350 Juden aus Gelsenkirchen ins Ghetto nach Riga deportiert. Sie wurden vor der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz zusammengetrieben – für Judith Neuwald-Tasbach ein Teil ihrer Familiengeschichte. Heute ist sie Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, die ihr Vater – selbst ein Deportierter – nach dem Krieg hier mitbegründete. 75 Jahre nach der Befreiung der wenigen Überlebenden im Lager Auschwitz kamen nun in der neuen Gelsenkirchener Synagoge mehr als 200 Menschen zusammen, um gemeinsam an die Gräueltaten zu erinnern und der Opfer zu gedenken.
Acht geben auf Worte, Begriffe nicht verharmlosen
„Aber eigentlich gibt es keine Befreiung von Auschwitz. Die Opfer müssen bis an ihr Leben mit der Erinnerung leben“, stellte Neuwald-Tasbach klar. Und mahnte zugleich, dass die gesamte Gesellschaft das Gedenken bewahren müsse. Gerade weil heute mehr als ein Drittel der Deutschen dafür plädieren, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.
Aufklärung und Prävention
Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist seit der Einrichtung der Stelle vor einem Jahr Antisemitismusbeauftragte in NRW, ehrenamtlich, aber mit Mitarbeitern und kleinem Etat.
Aufklärung, Präventionsarbeit und Unterstützung von Projekten zum Thema sind die Kernaufgaben der Stelle. Mehr Info dazu unter www.antinsemitismusbeauftragte.nrw sowie über 0211 837 1555.
Auch Bürgermeisterin Martina Rudowitz unterstrich, dass es „heute so wichtig ist wie lange nicht, sich zu erinnern, da heute wieder zunehmend Angstmacher vor Fremden unterwegs sind.“ Wie unverzichtbar das Wissen um die Geschichte für die Gestaltung der Gegenwart ist, betonte auch Propst Markus Pottbäcker in seiner Ansprache. Er mahnte, auf Worte und auf Taten Acht zu geben, nicht zuzulassen, dass Wortbedeutungen variiert werden, Begriffe verharmlost werden. Pottbäcker betonte auch, wie beschämend es sei, woran „Christen beteiligt waren und noch sind.“
Erzählen schafft die Verbindung von Erinnern und Gedenken und den Sprung ins Heute
Im Hebräischen gibt es ein und dasselbe Wort für Erinnern und Gedenken. „Und das Erzählen verbindet das Erinnern und Gedenken und damit das Fühlen und das Denken. Das Erzählen schafft so den Sprung vom Damals ins Heute“, plädierte Superintendent Heiner Montanus für beides. Über Herz und Kopf gehe die Erinnerung in die Hände, die Taten folgen lassen. Gerade in diesem Wahljahr gelte es darauf zu achten, wer wie die Zukunft gestalten will, wer auch von Empathie geprägt sei.
Gastrednerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismus-Beauftragte in NRW, betonte: „Für mich ist Gedenken kein Ritual, sondern Übernahme von politischer und gesellschaftlicher Verantwortung.“ Antisemitismus gebe es zwar seit Jahren, aber nicht in diesem Ausmaß. Es gebe ihn in allen Bildungsschichten – „auch bei denen, die alles wissen. Es ist erschreckend. Antisemitismus ist ein Angriff auf unser Wertesystem.“ Dabei zeigten Erhebungen auch, welch große Rolle antisemitische Stereotypen spielten, wie viele diese anführten, ohne selbst einen Juden zu kennen. Ein Drittel der Deutschen glaubten, dass der Holocaust ablenke von heutigen Ungerechtigkeiten, jeder vierte könne sich vorstellen, dass der Holocaust heute wieder geschieht. Der Kampf gegen Antisemitismus müsse deshalb „fester Bestandteil in allen Bildungsbereichen werden, unsere Wertegrundlagen stärker vermittelt werden“, bestätigte sie Forderungen ihrer Vorredner.
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„Wichtig ist auch, den Diskurs zu suchen“
Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, leitete die anschließende Diskussionsrunde, der auch Michael Schulz, Generalintendant des Musiktheaters im Revier, angehörte. Warum er mit seinem Haus stets so klar Position gegen Rassismus in allen Spielarten zeige und sich damit angreifbar mache?, „In meiner privilegierten Position ist es eine Pflicht, Verantwortung in der Stadtgesellschaft zu tragen. Die Kunst ist angetreten, die Wahrheit zu sagen. Wichtig ist aber auch, den Diskurs zu suchen. Eine Seite stellt sich dem nicht – vielleicht sind unsere Versuche aber noch zu ungelenk“, räumt er ein.
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Denis Andric, Leites Staatsschutzes der Polizei Gelsenkirchen, bestätigte, dass antisemitische Delikte zumeist von Rechten begangen werden, aber auch unter Linksextremen und Islamisten gebe es starke antisemitische Tendenzen, die man im Blick behalten müsse. In vielen Fällen bewegten sich Angriffe jedoch unterhalb der Strafrechts-Schwelle, und zwar durchaus bewusst. Sie könnten entsprechend dem jetzigem Recht nicht verfolgt werden. 350 Straftaten seien in dem Bereich in Gelsenkirchen 2018 registriert worden. Auch er plädierte vor allem für mehr Aufklärung, beginnend bei den Jüngsten, um Vorurteilen entgegenzuwirken.
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