Gelsenkirchen. 25 Mal sticht ein Stalker auf eine Gelsenkirchenerin ein, sie überlebt knapp. Das Urteil des Gerichts – schuldunfähig – fechtet die Frau (32) an.
Aufgeben, das kann und will Seda (32, Spitzname) nicht. Die zweifache Mutter hat jahrelang unter den Nachstellungen und Bedrohungen eines Stalkers gelitten. Im Sommer 2019 stach der 43-Jährige aus Gelsenkirchen mit einem Messer 25 Mal auf sie ein, die Zumba-Trainerin entging nur um Haaresbreite dem Tod. Faruk P. kam für unbestimmte Zeit in die geschlossene Psychiatrie. Das Urteil des Essener Schwurgerichtes im Februar – Freispruch wegen Schuldunfähigkeit – mag Seda weder verstehen noch akzeptieren. Deshalb geht sie mit ihrem Anwalt Frank Jasenski in die Revision.
„Ich kann so nicht leben“, sagt Seda. „Schließlich geht es auch um meine Kinder. Die beiden hat er auch bedroht. Wofür habe ich drei Jahre lang gekämpft, wenn dieser Mann schon nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß kommt“. Aus ihren Worten klingen Verzweiflung und Unverständnis. Sedan fällt es schwer, über das Geschehene zu sprechen. Zwischendurch braucht sie eine Pause, wenn die Bilder der Vergangenheit sie wieder einholen.
Ziele: Eine Verurteilung des Messerstechers und in ihrem Traumjob arbeiten
Umso bewundernswerter ist Sedas eiserner Wille. Mit großer Kraft zwingt sie sich dazu, den Blick nach vorn zu richten. „Ich habe ein neues Zuhause gefunden“, erzählt sie. Zwar sei sie noch in Therapie, aber wenn alles gut laufe, „könnte ich Anfang nächsten Jahres eine Ausbildung zur Kinderpflegerin und Erzieherin beginnen.“ Sie hatte bereits ein Zusage für ihren Traumberuf, der Start sollte am 28. August 2019 sein – doch das Messer-Attentat am 22. Juni zuvor zerstörte alles. An Zumba, das Fitness-Training, das sie so liebt und mit dem sie unter anderem ihr Leben finanzierte, ist für sie ohnehin nicht mehr zu denken. „Zu öffentlich, zu groß die Gefahr, dass er mich und meinen Namen eines Tages googelt und mir erneut auflauert.“
Diese Gefahr sieht auch Rechtsanwalt Frank Jasenski. Was er und Seda erreichen wollen: dass bei solchen Straftaten gegen Frauen „mehr Sicherungen eingezogen werden". Dass beispielsweise eine Zweitmeinung eingeholt werde, was bei medizinischen Fragen im Alltag mittlerweile gang und gäbe sei, "leider aber nicht bei Gerichtsgutachten". Und vor allem: Dass sich die Einstellung bei Gerichten, Staatsanwaltschaften und in der Gesellschaft ändere und solche Taten aus sexistischen, frauenfeindlichen Motiven künftig als das angeklagt und verurteilt werden, was sie seien: nicht Totschlag sondern Mord bzw. Mordversuche. Jasenskis Argument: „Auch bei "Rasern" hat sich hier die Sichtweise geändert. Zunehmend wird auch hier wegen Mordes angeklagt und verurteilt.
Revision soll offene Fragen klären
In Jasenskis Augen stehen das Stalking aus verschmähter Liebe und die Messerattacke in unmittelbarem Zusammenhang, das Gericht habe aber allein den Angriff betrachtet. Der Anwalt möchte die Ausführungen der Gutachterin neu bewertet wissen, er sieht darin Widersprüche. Feinheiten in Fragen, die Experten beantworten müssen. Grob gesagt: Es geht dabei um Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit. Kritik äußert der Jurist auch an der Arbeit der Polizei.
Die Gutachterin hatte ausgeführt, dass die „schizoaffektive Psychose“ von Faruk P. mit Medikamenten gut zu behandeln sei, er mit einer strengen Kontrolle und Nachsorge nach ein bis zwei Jahren entlassen werden könne. Warum aber, so die Fragen des Rechtsanwalts, ist dann der Psychiater, der Faruk P. über gut sechs Jahre behandelt hat, nicht auch dazu gehört worden. Stattdessen seien nur die Akten von weiter zurückliegenden Klinikaufenthalten des Angreifers bei seiner Beurteilung berücksichtigt worden? Und wenn die Medikamente wirkten, wieso dann die komplette Schuldunfähigkeit? Zumindest teilweise, so die Argumentation, hätte Faruk P. wissen müssen, was er da tat – das Stalking gepaart mit Morddrohungen erstreckte sich laut Anklageschrift von Juni bis November 2018. "Und in der Zeit war er in Behandlung, bekam Medikamente."
Anwalt: Video zeigt aufgeregten Angreifer - nur einer hat es gesehen
Zur Polizei. Vor der Bluttat am 22. Juni 2019 hatte Faruk P. in der Nähe von Sedas Wohnung in einem Café gesessen, als sie auf die Straße trat. Wegen seiner Geste, die angeblich das Kehledurchschneiden zeigte, hatte die 32-Jährige die Polizei gerufen. Die Beamten warnten ihn daraufhin in einer „Gefährderansprache“. Auf die Einsatzkräfte damals machte er laut Behörde einen ruhigen Eindruck, verständig. Kurz danach fiel er über Seda in ihrem Hausflur her.
Der Ansatz von Sedas Anwalt fußt auf einem Video aus dem Café, vorgeführt bei Gericht. „Darin ist klar erkennbar, dass von einer ruhigen Diskussion mit den Polizisten keine Rede sein kann“, sagt Jasenski. „Faruk P. gestikuliert wild herum und geht auch nicht wie von der Polizei beschrieben die De-la-Chevallerie-Straße herunter. Hat denn keiner außer dem Ermittlungsleiter die Aufnahme vorher gesehen“, fragt er. Jasenski und Seda glauben, dass die Polizei aufgrund des Verhaltens des Täters, wie es auf der Videoaufnahme zu sehen ist, zu einer anderen Risiko-Einschätzung hätte kommen müssen, vielleicht sogar die Tat hätte verhindert werden können.
Weil Stalking und Angriff getrennt voneinander gerichtlich aufgearbeitet werden, ruhen die Hoffnungen von Seda und ihrem Rechtsanwalt auf dem noch fortzuführenden Stalking-Prozess. Ein Termin steht noch nicht fest, auch hier wurde eine Expertise von der gleichen Gutachterin eingefordert. Kommt sie zum dem Schluss, dass Faruk P. über den Zeitraum des angezeigten Stalkings nur teilweise schuldunfähig gewesen ist, „so besteht die Hoffnung, dass er für ein paar Jahre hinter Gitter muss“, sagt Seda. „Wenigstens das.“
Stalking-Paragraf im Frühjahr 2017 novelliert
Im Jahr 2007 wurde der Straftatbestand der Nachstellung, wie das Stalking vom Gesetz bezeichnet wird, in Paragraf 238 im Strafgesetzbuch eingeführt. Zehn Jahre später, zum 10.03.2017, hat der Gesetzgeber Nachbesserungsbedarf gesehen und eine Neuregelung des Stalkings vorgenommen.
Wird das Opfer oder eine dem Opfer nahe stehende Person in die Gefahr des Todes gebracht, droht in diesem Fall eine Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Die Verfolgung selbst ist allerdings unbefriedigend, weil in ganz vielen Fällen das Verfahren eingestellt werden muss.
Das kann viele Gründe haben. Wenn nur Täter und Opfer beteiligt sind, lassen sich die einzelnen Tathandlungen oft nicht beweisen. Oder es lässt sich nicht klar belegen, dass die vielen Alltagshandlungen – die Kontaktaufnahme, der Blumengruß – in der Summe das überschreiten, was der andere hinzunehmen hat.