Gelsenkirchen. . CDU-Politiker Oliver Wittke redet über die parlamentarische Zusammenarbeit, den Umgang mit der AfD und die Lebensqualität hier und in Berlin.
Seit 2013 sitzt der ehemalige Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke (52) für die CDU im Deutschen Bundestag. Seit dieser Legislaturperiode ist er zudem Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. WAZ-Redaktionsleiter Steffen Gaux sprach mit ihm über seine Arbeit an Emscher und Spree.
Herr Wittke, vor einem Jahr wurde ein neuer Bundestag gewählt. Noch nie hat die Regierungsbildung danach so lange gedauert. Jetzt regiert wieder eine Große Koalition. Haben Sie sich damit arrangiert oder bedauern Sie manchmal, dass es nicht doch eine Jamaika-Koalition geworden ist?
Oliver Wittke: In der Verkehrs- und auch in der Wirtschaftspolitik gibt es riesige Schnittmengen zwischen CDU/CSU und SPD. Da gibt es keinen Streit. Wenn es Streit gibt, dann in gesellschaftspolitischen Fragen, in der Arbeitsmarkt-, Familien- und Finanzpolitik, sicher auch in Integrationsfragen. Aber insgesamt ist es ein gutes Miteinander.
Wäre unter Schwarz-Gelb-Grün heute irgend etwas anders?
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Ja, natürlich wäre einiges anders gewesen. Es gibt Dinge, die kann man mit Sozialdemokraten besser durchsetzen – zum Beispiel den sozialen Arbeitsmarkt. Ein Thema, das uns in Gelsenkirchen ganz besonders bewegt hat. Ich glaube nicht, dass wir das mit Liberalen hinbekommen hätten. Dafür hätten wir bei anderen Themen mit der FDP und den Grünen mehr hinbekommen – beispielsweise eine Rentenreform, die den Namen verdient, bei der wir dauerhaft die Rente zukunftssicher machen, statt darüber zu reden, wie wir irgendwann ab 2025 Rentenniveaus festschreiben.
Der GroKo sagt man nach, dass sie die Ränder stärkt. Passiert genau das gerade in Deutschland?
Ach, das weiß ich nicht. Ich will nur mal darauf hinweisen, dass der eigentliche Bruch im alten Parteiensystem nicht mit dem Auftauchen der AfD erfolgte, sondern schon vorher mit einer massiven Wahlenthaltung. Wir hatten früher bei Bundestagswahlen Beteiligungen, die lagen nah bei 90 Prozent.
Wir haben uns mittlerweile an Beteiligungen von unter 70 Prozent gewöhnt. Das hängt auch damit zusammen, dass soziale und gesellschaftliche Bindungen nicht mehr da sind. Die Funktionen, die früher Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und auch Parteien hatten, haben sie heute nicht mehr. Die AfD hat denjenigen, die sich von diesen alten Dingen abgewandt haben, vielleicht eine neue Heimat gegeben. Das mag sein.
Prozess des Zusammenwachsens dauert noch an
Wenn Sie an die Bilder aus Chemnitz denken: Haben Sie manchmal Angst davor, dass solche Szenen sich auch hier abspielen könnten?
Nein, ich glaube nicht, dass so etwas auf Gelsenkirchener Straßen stattfinden wird, weil wir hier eine andere Tradition haben. Ich bin auch viel in den neuen Bundesländern unterwegs. Man merkt, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall, dass die Menschen dort eine andere Geschichte haben. Sie gehen mit Fremden anders um, sie gehen mit Strukturveränderungen anders um. Das sage ich nicht mit einem Vorwurf, sondern werbend um Verständnis.
Wir müssen uns immer noch besser kennenlernen. Viele waren zum Beispiel in Freiberg, einer Stadt mit sechs Prozent Arbeitslosenquote, überrascht, dass ich aus einer Stadt mit 13 Prozent komme. Das ist unvorstellbar für Menschen, die im Speckgürtel von Dresden leben, dass es so etwas in Westdeutschland gibt.
Ich fragte natürlich auch mit Bezug auf die AfD. Bei der Bundestagswahl war sie hier so stark wie in kaum einer anderen Stadt im Westen.
Ja, aber trotzdem gibt es doch hier eine große Tradition der Fremdenfreundlichkeit und der Integration. Das ist ja im Großen und Ganzen im Ruhrgebiet gelungen. Hier gibt es ja keine Ureinwohner. Wer lebt denn seit fünf Generationen in Gelsenkirchen? Da gibt es doch kaum jemanden.
Halten Sie die AfD für gefährlich?
Man muss unterscheiden zwischen den Wählern der AfD und den Funktionären. Letztere machen mir Angst. Wenn man sich manche Bundestagsdebatte anhört, fühlt man sich an Zeiten erinnert, wo wir alle dankbar sind, dass es die nicht mehr gibt. Da wird mit Ressentiments gearbeitet, da wird eine Rhetorik an den Tag gelegt, die ist schlimm.
Deshalb glaube ich aber nicht, dass die Wählerschaft der AfD rechtsradikal ist – jedenfalls weite Teile der Wählerschaft nicht. Aber die Funktionäre sind ganz klar rechtsradikal. Wenn ich mir angucke, was Herr Höcke sagt, was Frau Weidel sagt, was Herr Gauland am Wahlabend gesagt hat: „Wir werden sie jagen.“ Was das heißt, haben wir jetzt in Chemnitz gesehen. Ich glaube, die Funktionäre der AfD versuchen immer weiter auszutesten, wie weit sie gehen können.
54 Quadratmeter in Berlin
Bewegen wir uns thematisch Richtung Gelsenkirchen. Sie pendeln regelmäßig zwischen Ihrer Heimat und Berlin. Wo lebt es sich besser?
Alles zu seiner Zeit. Gelsenkirchen hat große Vorzüge. Gerade im Sommer ist es angenehm, nicht in einem Moloch zu wohnen – denn genau das ist Berlin, vor allem im Zentrum, wo ich meine kleine 54-Quadratmeter-Wohnung habe. Da freue ich mich über große Grünflächen, wenn ich binnen kürzester Zeit mit dem Rad im Münsterland oder zum Laufen in Oberscholven bin.
So etwas wie meine Joggingstrecke, das habe ich in Berlin nicht. Da habe ich den Tiergarten und das Spreeufer – Ende. Andererseits ist Berlin natürlich eine spannende Stadt. Berlin ist wahnsinnig junge und wachsende Stadt. Jedes Jahr 50 000 neue Einwohner. Und es ist eine internationale Stadt, wahrscheinlich die einzige Weltstadt in Deutschland.
Gelsenkirchen soll die Stadt mit der schlechtesten Lebensqualität in Deutschland sein. Finden Sie das Ergebnis der Prognos-Studie gerechtfertigt?
Die Gelsenkirchener wissen, dass es nicht so ist. Aber es hilft auch nicht, jetzt die Augen zu verschließen und wie im Wald zu pfeifen, um die Angst zu vertreiben. Man muss sich dem stellen. Und wir müssen am Image arbeiten. Das heißt: Wir müssen uns beispielsweise bemühen, junge Menschen in die Stadt zu holen und in der Stadt zu halten.
Wir machen zu wenig aus unserer Hochschule. Da haben wir junge Menschen. Aber was hilft es, wenn wir die gut ausbilden, sie danach aber in Frankfurt, Düsseldorf oder München arbeiten? Wir haben gute Industriebetriebe in der Stadt. Aber ich wünsche mir, dass es mehr Forschung und Entwicklung gibt, dass wir mehr in Zukunftsbereiche investieren, um gerade jungen Menschen eine Perspektive zu geben.
Was ist Gelsenkirchens größtes Problem?
Ich glaube, das ist der Unterschied zwischen Schein und Sein. Wir sind viel besser als unser Ruf. Wir haben ein Imageproblem.
Werbung für die Stadt außerhalb Gelsenkirchens
Wer kann am ehesten etwas tun, um die Situation in Gelsenkirchen zu verbessern: der Bund, das Land oder die Kommune?
Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Es muss jeder einen Beitrag leisten. Wir haben ja gerade auf Bundesebene eine Kommission beim Innenminister gebildet: Gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland. Ich werde in dieser Kommission die Arbeitsgruppe Wirtschaft & Innovation leiten.
Das Land muss helfen – wie es das auch an vielen Stellen schon getan hat. Die Entwicklung an der Marina Graf Bismarck zum Beispiel wäre ohne das Land NRW nicht möglich gewesen. Das ist ein echtes neues Aushängeschild für Gelsenkirchen. Aber die Stadt muss natürlich auch was tun. Der Oberbürgermeister muss die Trommel rühren. Er muss vor allem raus aus der Stadt, muss außerhalb für Gelsenkirchen werben.
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Gibt es etwas, dass Ihrer Meinung nach in Gelsenkirchen außerordentlich gut läuft?
Das größte Pfund, das wir haben, sind die Menschen, die hier leben. Diese Offenheit, das Aufeinander zugehen, die Hilfsbereitschaft, die Solidarität, die Bereitschaft Fremde aufzunehmen – ich finde, das ist schon eine große Stärke. Wenn ich harte Dinge nennen soll: Die Entwicklung Berger Feld rund um die Arena ist eine fantastische Entwicklung – da kann man aber auch einen Tacken mehr draus machen.
Die Fachhochschule ist ein echtes Highlight – kam aber viel zu spät, auch da kann man mehr draus machen. Die Zoom-Erlebniswelt erwartet so niemand in Gelsenkirchen. Wir haben neulich Freunde aus dem Rheinland zu Gast gehabt und sind mit denen Zechenbahntrassen entlang gefahren. Ein grünes Netz quer durch die Stadt, quer durch die Region – das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das haben andere Städte nicht.
Wie sehen Sie die Wahl von Ralph Brinkhaus zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – gefreut, geärgert, geschockt?
Personalwechsel sind in der Demokratie nichts ungewöhnliches. Wir müssen jetzt aufpassen, dass Fraktion und Regierung eng beieinander bleiben. Nur so bekommen wir den guten Koalitionsvertrag Stück für Stück abgearbeitet. Am Ende geht es um Inhalte und Problemlösungen, nicht um persönliche Profilierung oder Streit.
Eine solche Laufbahn ist nicht planbar
Sie sind jetzt Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Erlaubt es diese Position, speziell Dinge für Gelsenkirchen zu tun oder anzustoßen?
Wenn der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium beim Vorstand von ZF anruft, verfehlt das seine Wirkung nicht. Ich will das nicht weiter ausführen – es laufen auch viele Dinge, über die ich keine Pressemitteilung absetze. Da gibt es eine enge Zusammenarbeit auch mit der Stadtspitze. Das ist so ein Beispiel. Ein anderes: 2001, als der Solidarpakt II verabschiedet wurde, gab es einen Einzigen in der Republik, der dagegen war.
Das war der Gelsenkirchener Oberbürgermeister, der damals schon gesagt hat: Es kann nicht sein, dass wir bis 2019 in der Förderpolitik die Verteilung festschreiben; wir müssen nach Bedürftigkeit und nicht nach Himmelsrichtung fördern. Dass ich das jetzt neu entwickeln darf – da schließt sich für mich ein thematischer Kreis. Ich bin für die entsprechende Abteilung im Wirtschaftsministerium zuständig. Da kann ich sicherlich was für Gelsenkirchen bewegen.
Sie sind jetzt Anfang 50 und blicken auf eine lange Polit-Karriere zurück: Sie sind seit 2013 im Bundestag, waren vorher im Landtag, Sie waren NRW-Verkehrsminister und Oberbürgermeister von Gelsenkirchen. Gibt es eine Lieblings-Epoche?
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Nein. Das war ja alles nicht geplant. Eine solche Laufbahn kann man auch gar nicht planen. Das ergab sich und das waren Höhen und Tiefen: als Oberbürgermeister abgewählt, als Minister zurückgetreten, als Generalsekretär eine Landtagswahl in den Sand gesetzt – und jetzt Staatssekretär. Das sind ja Aufs und Abs, da lernt man Menschen kennen. Wenn man oben ist, sind alle da – und wenn man abstürzt, sind die meisten weg.
Sie haben auch einen anständigen Beruf erlernt. Sie sind Diplom-Geograf. Das heißt, Sie sind gut in Erdkunde. Gibt es ein Fleckchen Erde, wo Sie in Ihrem Leben unbedingt mal hinwollen, ein Traumziel?
Ich bin kein Reise-Onkel. Wenn es etwas Belastendes gibt im neuen Job, dann ist das die vermehrte Reisetätigkeit. In diesem Jahr stehen noch auf dem Programm: Bulgarien, China, Argentinien und die Türkei. Wenn ich privat ein Traumziel hätte, dann der Indian Summer in Kanada oder Alaska. Das wäre noch was, was mich reizen könnte.