Gelsenkirchen-Erle. . Dr. Astrid Rudel ist Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Sie leitet die Klinik in Erle und begutachtete Marcel H..
Seit 2016 ist Dr. Astrid Rudel Chefärztin am Elisabeth Krankenhaus in Erle. Die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie, mit Sexualtherapieausbildung und einem Master in Gesundheitsökonomie (MBHA) hat lange an Forensischen Kliniken, also im Maßregelvollzug gearbeitet und ist als Gutachterin bei Gericht sehr gefragt. Zuletzt wurde ihre Einschätzung beim Prozess gegen den Herner Marcel H. angefragt, dem 20-Jährigen, der einen kleinen Nachbarsjungen und einen ehemaligen Schulkameraden umgebracht hatte und sich später seiner Taten via Internet rühmte.
Frau Rudel, seit wann sind Sie auch als Gutachterin bei Gericht tätig?
Angefangen hab ich damit schon in der Facharztausbildung Anfang der 2000-er Jahre. Da war es auch noch üblich, dass man Gutachten im Rahmen der Facharztausbildung vorweisen musste. Ich hatte an der Ruhr-Universität Bochum einen sehr guten ersten Lehrmeister dafür. Das hat mich damals schon sehr interessiert. Heute allerdings ist der Schwerpunkt meiner Arbeit hier in der Klinik, als Chefärztin nehme ich nur noch wenige Gutachteraufträge an. Bei Gutachten ist es wichtig, dass man sorgfältig arbeitet. Die Arbeit ist sehr zeitintensiv.
In welchen Bereichen arbeiten Sie als Gutachterin?
Als forensische Gutachterin, für Prognosegutachten und zur Beurteilung von Schuldfähigkeit. Mit rechtlichen Fragestellungen, im zivilrechtlichen Bereich zum Beispiel mit dem Betreuungsrecht sind wir in der Klink regelmäßig beschäftigt. Ausführliche Gutachten schreibe ich in der Regel nicht über unsere Patienten, sondern über Menschen in anderen Einrichtungen.
Sie haben in Eickelborn und anderen Maßregelvollzugsanstalten gearbeitet. Hier haben Sie andere Patienten und Bereiche. Warum haben Sie sich für den Chefarztposten in Erle entschieden?
Weil die Allgemeinpsychiatrie mir sehr gefällt, sie ist noch breiter gefächert. Forensische Psychiatrie allein bis zum Rentenalter wäre mir zu ausschließlich gewesen. Es sind auch relativ wenige Frauen im Maßregelvollzug, weil sie seltener Gewaltdelikte begehen.
Was für Gutachten im forensischen Bereich machen Sie und für wen?
Es sind zum einen Prognosegutachten, die bei schwierigen Fällen gefragt sind und auch bei der Einschätzung von Erfolgen bei Therapiemaßnahmen. Da kann es um Sicherungsverwahrung oder Entlassung gehen, aber es ist auch vorgeschrieben bei Menschen, die in forensischen Psychiatrien untergebracht sind. Schuldfähigkeitsgutachten sind insofern aufwändiger, weil es da neben dem Aktenstudium und den Gesprächen auch um Anwesenheit bei den Gerichtsverhandlungen geht. Wenn man einen Auftrag angenommen hat, muss man bei Gericht präsent sein, sich nach den Terminen der vielen anderen eingebundenen Richter und Staatsanwälte richten. Das ist in den Klinikalltag nur schwer zu integrieren. Und so kann ich im Moment leider nicht viele solcher Gutachten annehmen.
Bei Marcel H. waren sie als Gutachterin zur Schuldfähigkeit gefragt. Wie war aufwändig war das?
Details zu dem Fall möchte ich über das hinaus, was aus den Verhandlungen bekannt ist, nicht nennen. Aber bei solch schweren Fällen sind es schnell zehn Aktenordner, die man sorgfältig durcharbeiten muss. Und man führt mehrere Gespräche im Vorfeld der Verhandlung, bevor man ein vorläufiges Gutachten anfertigt und einreicht.
Wie geht man denn an so ein Gutachten heran?
Als Gutachterin begegne ich dem Menschen nicht mit Schweigepflicht wie als Therapeutin, ganz im Gegenteil. Es ist wichtig, das dem Probanden eindeutig zu vermitteln, vor allem wenn er psychiatrische Ärzte bis jetzt nur als helfend und verschwiegen kennengelernt hat. Bevor ich ihm gegenübertrete, muss ich natürlich möglichst gut anhand der Aktenunterlagen vorbereitet sein. Das heißt, ich muss alles wissen und das, was er mir erzählt, mit den Unterlagen vergleichen können. Man sollte sehr offen in so ein Gespräch gehen, es ist wichtig, in einer respektvollen Atmosphäre miteinander zu sprechen. Damit es möglich ist, Dinge von sich preis zu geben, die ja oft sehr intim sind. Erstmal geht es dann um die Lebensgeschichte, Krankheitssymptome, manchmal nutzen wir auch testdiagnostische Verfahren oder apparative Diagnostik. Hirnstrommessungen zum Beispiel. Bei Zusatzuntersuchungen, die eine Expertise erfordern, die ich nicht habe, also zum Beispiel röntgenologische Bildgebung des Schädels, entscheidet das Gericht, ob meinem Antrag stattgegeben und ein Zusatzgutachten beauftragt wird.
Woran erkennen Sie, wenn jemand lügt, zu täuschen versucht?
Ich würde nicht behaupten, von vornherein zu erkennen, wenn jemand lügt. Wenn ich eine Diskrepanz zur Aktenlage erkenne, spreche ich das an. Menschen, die da ganz geschickt drüber hinweg gehen: Das sind oft recht erfahrene Lügner. Das Vermeiden von Blickkontakt ist häufig ein Zeichen für Lügen – außer bei notorischen Lügnern, die suchen den Blickkontakt um zu überprüfen, ob ihre Lüge ankommt. Körpersprache verrät viel. Es gibt aber auch Menschen, die Spaß haben am Lügen, die erzählen ihnen dann auch, dass sie etwa ihrer Mutter auch schon immer gern Geschichten erzählt haben. Die Probanden dürfen aber auch einfach sagen, darüber möchte ich mit Ihnen nicht sprechen. Erkennen tut man die Unwahrheit am ehesten am Rauslavieren.
Wie lange haben Sie mit Marcel H. gesprochen?
In besonders komplexen Fällen muss man häufiger miteinander sprechen. Gerade bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen ist es wichtig, mehrere Eindrücke zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu gewinnen. Auch demjenigen die Möglichkeiten geben, zu reflektieren, was aus dessen Sicht noch wichtig ist zu sagen. Solche Gespräche gehen über mehrere Stunden.
Sie dürfen alles verwenden für ihr Gutachten, was Sie erfahren haben?
Ja, das muss ich sogar tun. Wichtig ist, dass alles, auf das im Gutachten Bezug genommen wird, auch vor Gericht eingeführt, also gesagt oder gezeigt wurde. Wenn ich etwa ein Video aus den Akten gesehen habe und es vor Gericht nicht gezeigt wird, darf es nicht zugrundegelegt werden. Dann muss ich vor Gericht – wenn ich gefragt werde – darauf hinweisen, dass es hilfreich wäre, dieses Video zu zeigen.
Spricht man als Gutachter auch mit Angehörigen oder dem Umfeld?
Das darf ich nicht. Man darf nicht selbst anfangen, zu ermitteln. Das wäre ein Fehler, der mir einen Befangenheitsantrag einhandeln könnte. Ich kann aber dem Richter sagen, es wäre für meine Beurteilung wichtig, mit der Mutter zu sprechen. Oder bei Sexualverbrechen mit dem ehemaligen Partner. Das Gespräch wird dann aber in der Regel vor Gericht stattfinden. Das ist bei Patienten in der Klinik natürlich völlig anders.
Konnten Sie während des Prozesses gegen Marcel H. gut schlafen?
Ja, ich schlafe immer gut. Man braucht eine gewisse Distanz. Bei Notfällen in der neurologischen Intensivstation, bei Hirnblutungen – da hatte ich als junge Ärztin unruhigere Nächte.
Was ist, wenn sich bei Gericht herausstellt, dass manches gelogen war, Ihre Einschätzung falsch war?
Natürlich aktualisieren wir das vorläufige Gutachten am Ende, wenn neue Erkenntnisse, Aussagen des Probanden oder Zeugenaussagen zu anderen Einschätzungen führen. Bei Marcel H. war es ja so, dass er mit mir gesprochen hat, aber vor Gericht nicht. Auch das ist nicht optimal. Da kann man vor Gericht nur das Verhalten, Gestik und Mimik beobachten.
Wenn Sie abschließend ihre Bewertung vor Gericht vortragen: Worauf kommt es an?
Ich muss alles zueinander in Beziehung setzen. Prüfen, ob festgestellte Erkrankungen wirklich mit der Tat zusammenhängen, bei Alkoholabhängigen etwa. Ich muss dem Gericht transparent machen, wie ich zu meiner Einschätzung gekommen bin, welche Faktoren entscheidend waren, damit das Gericht meine Entscheidung überprüfen kann. Ich muss offen sagen, wie sicher ich mir bei meiner Bewertung bin.
Welche forensische Begutachtung würden Sie ablehnen?
Nur Menschen, die ich persönlich kenne oder ehemalige Patienten. Sonst ist nur Zeit der entscheidende Faktor, nicht ein Delikt.
Was macht einen guten Gutachter aus?
Man muss sich wie ein guter Psychiater verhalten. Wertschätzung und Respekt gegenüber dem Probanden sind wichtig, Interesse am Gegenüber. Das sind ja oft Menschen, denen nicht viel Interesse in ihrem Leben entgegengebracht wurde. Das würde ich sagen ist der Schlüssel.
Kann man auch ausschließlich als Gutachter arbeiten?
Ja, wer genug Erfahrung hat und die Voraussetzungen erfüllt, kann sich auch selbstständig als Gutachter niederlassen. Ich habe selbst auch eine Weiterbildungsermächtigung für Gutachten im Rahmen der Facharztausbildung an unserer Klinik. Diese Fortbildung und Supervision biete ich gern an, denn es macht Spaß, engagierte Ärzte an diese Arbeit heranzuführen.
Frau Rudel, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
>>>Marcel H. erstach den kleinen Nachbarjungen
Marcel H. war 19 Jahre alt, als er 2017 den neunjährigen Nachbarsjungen Jaden in den Keller seines Elternhauses lockte. Dort stach er 52 Mal auf das Kind ein. Auf der Flucht fand Marcel H. Unterschlupf bei einem Ex-Schulkameraden. Auch ihn erstach er.
Die Gutachterinnen Astrid Rudel und Sabine Nowara bescheinigten dem geständigen Täter, der vor Gericht schwieg, volle Schuldfähigkeit, keine Reifeverzögerung. Sie diagnostizierten aber auch eine „dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und sadistischen Anteilen“. H. wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen der „besonderen Schwere der Schuld“ ist eine Freilassung nach 15 Jahren ausgeschlossen.