Gelsenkirchen. . „Gottverlassen“ lautete das Motto des jüngsten Emporenkonzertes in der Nicolai-Kirche in Gelsenkirchen-Ückendorf. Sänger und Musiker spürten dabei den Gefühlswelten der Menschen zu Kriegszeigen nach. Aber auch musikalischer Seelenbalsam wurde geboten...
Vor 100 Jahren brach der erste Weltkrieg aus – doch was bewegte die Menschen damals? Wie konnte es soweit kommen? Diesen Fragen ging ein ebenso ungewöhnliches wie bewegendes „Emporenkonzert“ in der Ückendorfer Nicolai-Kirche am Samstag nach. Mit dem Wort „Gottverlassen“ war es übertitelt.
Vor der Tür brach gerade der Abend über Gelsenkirchen hinein, als die Sopranistin Marion Wilmer – begleitet vom Klaas Hoek am Harmonium – die Stille mit dem Lied „He is there!“ von Charles Ives durchbrach. Das Werk, 1917 entstanden inmitten des Weltkrieges, verbindet schwungvolle Kirmes-Karussell-Melodien mit Passagen, die die Grenzen zur Atonalität durchbrechen.
Gefühlschaos der Menschen
Treffender hat zu dieser Zeit kaum ein Komponist das Gefühlschaos der Menschen während des blutigen Krieges auf den Punkt gebracht. Marion Wilmer machte das Gefühlschaos hör- und spürbar.
Einen ganz ähnlichen Effekt hatte die Improvisation von Michael Gees am Synthesizer und Andreas Fröhling an der Orgel später am Abend: Was mit sanften Schwebeklängen begann, steigerte sich im Verlauf in Punkto Lautstärke und Intensität so sehr, dass es den Zuhörern physisch weh tat. An dieser Stelle merkte man: Einen Krieg kann man nicht abschalten, er schmerzt – auch wenn man ihn nicht selber kämpft.
Auszüge aus Predigten und Kurzgeschichten
Auszüge aus Predigten und Kurzgeschichten aus verschiedenen Epochen, mit effektvollen Pausen vorgetragen von Schauspieler Wolfram Boelzle und Superintendent Rüdiger Höcker, unterstrichen die musikalischen Aussagen. Und doch wurde dies kein schwermütiges Konzert. Denn Andreas Fröhling, der den Abend leitete, hatte mit barocken Liedern von Johann Hermann Schein (entstanden während des Dreißigjährigen Krieges) und der Vertonung des 42. Psalms von Felix Mendelssohn Bartholdy auch musikalischen Seelenbalsam eingebaut.
Die erweiterte Kantorei an der Nicolai-Kirche und das Ensemble Selva Vocale mit Susanne Dieker, Julia Hagemann, Susanne Reimann, Bruno Michalke und Jens-Martin Ludwig glänzten hier mit Stimmgewalt – und ließen diesen Konzertabend zu einem echten Erlebnis werden.