Essen. Im Prozess um den gewaltsamen Tod der 23-jährigen Madeleine räumt der angeklagte Stiefvater Günther O. sexuellen Missbrauch in fünf Fällen ein – und auch, dass er ihr die tödlichen Verletzungen beigebracht hat. Aber ach, alles war nur ein beklagenswerter Unfall.
Nicht einmal ein knappes „Ja“ bringt er über die Lippen, was vielleicht an seinem Sprachfehler liegen mag. Kein „so war das“. Sondern nur: ein kurzes Nicken. Damit der Richter Ruhe gibt.
Das Nicken, es gilt einer gut einstündigen Erklärung, mit der der Essener Rechtsanwalt Wolfgang Weber wohlgesetzt und manchmal unfreiwillig gestelzt formuliert hat, was Günther O. zu sagen hat: über sein verkorkstes Leben und das seiner Familie, über fehlende Perspektiven und eine „verbotene Liebe“, die wohl doch eher sexueller Missbrauch war, über seine Stieftochter Madeleine und das gemeinsam mit ihr in einer Silvesternacht gezeugte Kind und über die Frage, wie es bloß dazu kommen konnte, dass er dem jungen Leben der 23-Jährigen am 11. Februar dieses Jahres in einer Borbecker Kleingartenanlage gewaltsam eine Ende setzte.
Kein Mord
Ja, er war es. Aber es war, so beschreibt Verteidiger Weber, alles ganz anders, als die Anklage es Glauben mache und eine gnadenlose Medienschar nur allzu gern aufgreife.
Kein Mord. Eine Art Unfall. Juristisch gesehen vermutlich Körperverletzung mit Todesfolge, wenn ihm das Schwurgericht der II. Großen Strafkammer am Landgericht unter Vorsitz von Richter Andreas Labentz die Schilderung abnimmt.
Im Suff der Silvesternacht gezeugt
Der sexuelle Missbrauch schon im Kindesalter? Mindestens fünf Fälle? Wird eingeräumt, samt der späten Erkenntnis, dass „die Grenze zulässigen Zärtlichkeitsaustausches überschritten“ war und Günther O. sich wohl „selbst eingeredet hat, die Begegnungen als einvernehmlich zu qualifizieren“.
Die im Suff der Silvesternacht 2010 mit der Stieftochter gezeugte Tochter Eileen, für seinen Mandanten, so trägt der Anwalt vor, war das jenes Kind, das er mit seiner Frau nicht mehr haben konnte, weil diese sich sehr zu seinem Ärger hatte sterilisieren lassen. Eileen nicht um sich zu haben, nicht aufwachsen zu sehen, das ertrug Günther O. nicht, was die Verbissenheit erklärt, mit der er trickreich Madeleine nachstellte, die 2012 aus einer familiären Enge flüchtete, in der sie für jedes Entgegenkommen mit Sex bezahlen musste, der Sohn für die anfallenden Arbeiten zuständig war und die medikamentös offenbar oft betäubte Mutter ihrem Gatten erst den Arbeitsverdienst abzuliefern hatte, um hernach billig gebunkerte polnische Zigaretten zu Automaten-Preisen abzukaufen. Das Wort „Hass“ kommt da schnell über die Lippen.
Geld und dann weg
Und dann dieser 11. Februar: Auf hinterlistige Weise hatte Sohn Daniel ein Treffen mit Madeleine arrangiert, man fuhr zur Kleingartenanlage am Weidkamp, um sich auszusprechen, weil Madeleine Geld versprochen worden war.
Günther O., so lässt er seinen Anwalt sagen, ging es darum, einen regelmäßigen Kontakt mit Eileen zu vereinbaren, darum, vermeintliche „Übertreibungen“ aus Madeleines Strafanzeige gegen ihn richtigzustellen oder noch besser: diese ganz zurückzuziehen. Was diese abgelehnt haben soll mit dem Hinweis, dann verliere sie ihre Opferentschädigung, und überhaupt, sie wolle ihr Geld und weg.
Tod durch Wodkaflasche am Kopf
Es gab Geschrei und – behauptet Günther O. – die Drohung, Stiefvater und Bruder wegen „Entführung“ anzuzeigen. Und es gab Madeleines wütenden Griff zu einer leeren Bierflasche auf dem Tisch, die sie Günther O. über den Schädel zog. Gerangel in der kleinen Laube, nein, sie soll jetzt nicht weg, der Stiefvater fesselt sie „in einer gewissen Panik“ mit einem herumliegenden Boxenkabel, stopft ihr ein Geschirrtuch in den Mund. Bloß kein Geschrei mehr. Nein, kein Geschrei, aber Madeleine „hörte nicht auf, weiter Schimpfgeräusche von sich zu geben“, was Webers Mandanten „in immer größere Panik“ stürzte.
Und dann griff er eine fast volle Wodkaflasche auf dem Tisch, die – „ohne dass dies so gewollt gewesen wäre“ – Madeleine am Kopf traf, dabei habe sie doch nur an der Wand zerschellen und das Mädel erschrecken sollen. Günther O. will der in sich zusammengesackten Madeleine dann den Puls gefühlt und geglaubt haben, sie sei tot. Gemeinsam mit Sohn Daniel habe er die junge Frau dann in ein zur Bodenkultivierung ausgehobenes Loch gelegt und dem Jungen gesagt, er solle sich ein Alibi verschaffen.
Vernehmung per Video-Schaltung
Irre Story. Ein 47-Jähriger, der angesichts seiner gefesselten und geknebelten Stieftochter in Panik gerät. Sohn Daniel, schräg hinter Günther O. auf der Anklagebank sitzend, hat mehrfach den Kopf geschüttelt. Er will am nächsten Prozesstag seine Sicht der Dinge schildern lassen. Und hört diese Schlussbemerkung: „Mein Mandant bedauert sehr das, was passiert ist und wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen und von einem geeigneten Punkt ab neu laufen lassen.“
Günther O.s Ehefrau hat die Schilderungen nicht mit angehört. Ihre Vernehmung wird wegen massiver Angststörungen per Video-Schaltung abgewickelt. Es ist die zähe Befragung einer Frau, die – teilweise benebelt durch Alkohol – nichts mitbekommen haben will: nicht den jahrelangen sexuellen Missbrauch der eigenen Tochter, nicht irgendwelche Wesensveränderungen nach der Tat bei ihrem Sohn.
Wie durch eine Milchglasscheibe
Eine Frau, die über ihren herrschsüchtigen Mann sagt: „Angst hatten wir alle“, und die etwa die Lügenstory vom vermeintlichen „One-Night-Stand“, bei dem Eileen in der Silvesternacht gezeugt wurde, erst gut dreieinhalb Jahre später überdenkt, als der Vorsitzende Richter sie auf Ungereimtheiten anspricht.
Wann ihr Günther verhaftet wurde, das Datum kennt sie aus dem Effeff: 18. Februar 2014, ihr 20. Hochzeitstag. Aber sonst scheint sie die Ereignisse eher verschwommen zu sehen, wie durch eine Milchglasscheibe. Vielleicht besser so.