Vor dem Schwurgericht begann gestern der Prozess gegen Günther O. aus Bochold. Der 47-Jährige ist angeklagt, seine Stieftochter Madeleine jahrelang sexuell missbraucht und im Februar ermordet zu haben

Der Kollege auf der Pressebank ist ein wenig verunsichert: „Sach ma, weint der?“

Schwer zu sagen. Vor dem Pulk an wartenden Fotografen und Kameraleuten hat Günther O. den Kopf zu tief gesenkt, als dass man irgendetwas erkennen könnte. Immer wieder fährt er sich mit der linken Hand durch die schulterlangen zerzausten Haare, während die rechte Halt an einem dünnen blauen Filzstift sucht.

Es ist nach knapp sechs Monaten Untersuchungshaft der erste öffentliche Auftritt eines Mannes, der sich offenbar erst gar keine große Mühe geben mag, einen besonders guten Eindruck zu hinterlassen. Hätte sich der 47-Jährige sonst dafür entschieden, seinem Mordprozess in blauer Jeans und einem roten Fußball-Trikot von Bayern München zu folgen? Wenn es denn andererseits Tränen sind, die der gebürtige Österreicher Günther O. vorn auf der Anklagebank in Saal 101 des Essener Landgerichts vergießt – und seien es auch nur welche aus Selbstmitleid – dann könnte man die Hoffnung haben, dass da menschliche Regungen bei jemandem durchscheinen, dem eine ganz und gar monströse Tat vorgeworfen wird.

Günther O. soll seine Stieftochter Madeleine über fast ein Jahrzehnt sexuell missbraucht haben, immer und immer wieder: ein schmieriger herrschsüchtiger Widerling, so lässt die Anklage durchblicken, der das unerfahrene Mädchen womöglich schon im Kindesalter mit 13 bedrängte, der sich Gefälligkeiten und Geschenke mit allerlei Liebesdiensten bis hin zum Geschlechtsverkehr honorieren ließ und mit der ihm geradezu hörigen jungen Frau vor knapp drei Jahren sogar ein Kind zeugte.

Und als es Madeleine endlich gelang, aus diesem Kreislauf der Gewalt auszubrechen, als sie ihren Peiniger im gefühlten Schutz von Frauenhäusern und einem neuen eigenen Zuhause anzeigte, als es zudem eng zu werden drohte für den Stiefvater, weil ein Gutachten ihr uneingeschränkte Glaubwürdigkeit attestierte, da soll Günther O. mit Hilfe seines leiblichen Sohnes Daniel blutige Rache genommen haben: Sie köderten Madeleine über Umwege in sozialen Netzwerken aus ihrer Anonymität, trafen sich am 11. Februar zur vermeintlichen Aussprache und verschleppten sie zu einer Kleingartenanlage am Weidkamp.

Dort soll Günther O. seiner Stieftochter vermutlich mit einem Hammer schwere (Kopf-)Verletzungen beigebracht, sie geknebelt, gefesselt und im Garten unter Erde und Beton vergraben haben. „Tod durch äußeres Ersticken“, notiert die Anklage.

War es so?

Zumindest an diesem ersten von 13 anberaumten Verhandlungstagen bekommt das Schwurgericht der II. Großen Strafkammer unter Vorsitz von Andreas Labentz darauf keine Antwort des Angeklagten. Was Verteidiger Wolfgang Weber nicht zuletzt „nicht ganz einfachen Haftverhältnissen“ Günther O.s zuschreibt. Hinter Gittern bleibt eben nicht verborgen, welcher Taten jemand beschuldigt wird.

Doch bei nächster Gelegenheit, der 2. September wird das sein, will Günther O. sich über seinen Rechtsanwalt äußern; eine Erklärung, „sicher mehr als drei, vier Sätze“, sagt Weber. Aber wie weit der Angeklagte darin gehen wird, bleibt offen. Auch Sohn Daniel will dann seine Version der Geschichte erzählen. Der 22-Jährige bestritt bislang jede Kenntnis von Mordabsichten, will vielmehr nur als Vermittler für ein klärendes Gespräch agiert haben.

Aber warum dann die Mühe, sich ein Alibi mit einer gefälschten SMS zu verschaffen? Auch Günther O. werden Zitate zugeschrieben, die erschaudern lassen: Wenn er Madeleine in die Finger bekomme, so zitiert Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens, dann werde sie unter der Erde liegen – und er darauf herumtrampeln.

Passen würde ein solcher Satz in das Bild des Angeklagten, wie die Anklage es gestern zeichnete: ein Despot, „der die Familie mit strenger Hand führt“, der keine Gewalt braucht, sondern nur das über Jahre zementierte „Hörigkeitsverhältnis“, um seine Stieftochter erst im Elternschlafzimmer und später – aus Angst vor Entdeckung – auf einem Bettenlager im Keller zu missbrauchen.

Günther O. soll es nicht dabei belassen haben, seine Stieftochter zu missbrauchen, er filmte sie dabei, bugsierte sie zugleich in eine „völlige Abhängigkeit und soziale Isolation“. Nur so lässt sich nach Ansicht der Anklage erklären, dass Madeleine erst Strafanzeige erstattete, als sie im August vor zwei Jahren von zuhause floh.

Die Polizei ging der Sache nach, durchsuchte drei Monate später die Dachgeschosswohnung an der Carl-Kruft-Straße in Bochold, doch Günther O. hatte auch für diesen Fall vorgesorgt: Er präsentierte den Ermittlern eine eidesstattliche Versicherung, in der Madeleine erklärte, mit ihrem Stiefvater stets einvernehmlich Sex gehabt zu haben.

Hätte das stutzig machen müssen? Für manchen Prozessbeobachter muss sich die Staatsanwaltschaft jedenfalls den Vorwurf gefallen lassen, nicht früh, nicht massiv genug eingeschritten zu sein. Hätte man die Tat so am Ende gar verhindern können?

Günther O., so die Anklage, war vom Gedanken beseelt, mit Madeleine auch alle Probleme für sich aus der Welt schaffen zu können. Doch wie an sie herankommen? Für die Kontaktaufnahme baute er seinen Sohn Daniel in einen perfiden Plan ein, gab sich mal als neuer Freund von Madeleine aus, kontaktierte ehemalige Klassenkameraden und hörte Telefonate über eine Konferenzschaltung mit.

Und er ahnte, wie er seine klamme Stieftochter aus der Anonymität locken konnte: mit Geld. Ein hübsches Sümmchen soll Madeleine versprochen worden sein, als sie sich am 11. Februar, einem Dienstag, morgens um neun am Gelsenkirchener Hauptbahnhof mit Daniel traf. Der lotste sie zu einem Wagen, in den dann – wohl sehr zu ihrem Entsetzen – der Peiniger von einst zustieg.

Was genau in der Kleingartenanlage am Weidkamp geschah, lässt sich nur am geschundenen Leichnam von Madeleine ablesen, den die Polizei unter zwei Erd- und Rindenmulchschichten und zwei Platten Schnellbeton fand. Sieben Tage war die junge Frau da schon vermisst, und der Schrebergarten O.s schlicht der nächste abzuarbeitende Punkt. Zuvor hatten Taucher bereits im Stadthafenbecken vergeblich gesucht.

In Parzelle 42 zeigten die Leichenspürhunde Interesse – nicht mehr. Und den ermittelnden Kripobeamten kam Spanisch vor, dass in einem ansonsten eher vernachlässigten Garten drei Zuckerhut-Pflanzen frisch gepflanzt waren. Man grub, fand frische Pflanzenreste, grub weiter, stieß auf eine erste Betonschicht, erneuten Boden und eine zweite Betonschicht. Erst als das herbeigerufene Technische Hilfswerk ein Loch in die zweite Betonschicht meißelte, kam eine Jeans zum Vorschein, man sah ein Bein – die sterblichen Überreste von Madeleine waren gefunden.

Im Prozess nahm die Schilderung der als Zeugen geladenen Polzisten gestern viel Raum ein. Vorn am Richtertisch wurden Fotos vom Fundort gezeigt, später auch von der „völlig übermöblierten und zugestellten“ Dachgeschoss-Wohnung des Angeklagten. Der Essener Kripomann schildert das Zuhause als „nah an einer Messie-Wohnung“ – was Günther O., der sich bis dahin eher gelangweilt in den Sessel gefläzt hatte, mit einem kurzen Stirnrunzeln quittiert. Aber dann merkt er auf, als der Polizist über die abenteuerliche Verkabelung in der Wohnung sprach. Da musste er dann doch schmunzeln. Offenbar sehr komisch, das.